Der Kuss des Morgenlichts
wieder daran denken, was gestern Abend geschehen war. An diesem sonnigen Tag verloren das Entsetzen und die zermürbenden Gedanken ihre Macht, und die Panik, mit der ich gestern ins Haus gestürzt und alle Fenster verschlossen hatte, erschien mir fast lächerlich.
Auch als Aurora in die Küche getappt kam, wirkte sie noch verschlafen, aber keineswegs verängstigt. Als ich ihr einen Kakao anrührte, erwähnte sie nicht den dunklen Mann, den sie zu sehen geglaubt hatte, sondern wollte über Hallstatt sprechen.
»Weißt du, dass dieser Ort zu den am frühesten besiedelten in Europa gehört?«, begann sie ernsthaft. »Es gibt Siedlungsspuren, die bis ins Neo … Neo … «
»Neolithikum«, half ich ihr weiter, »Jungsteinzeit.«
»Auf jeden Fall haben schon vor über zehntausend Jahren Menschen hier gelebt«, erklärte sie tief beeindruckt.
»Es gibt hier auch das sogenannte Beinhaus«, erzählte ich. »Vielleicht können wir es einmal besuchen. Dort werden … «
»Ich weiß, ich weiß!«, unterbrach sie mich eifrig. »Dort werden Totenköpfe gesammelt. Über tausend! Von berühmten Hallstättern! Man hat sie bemalt und sie mit dem Todesdatum beschriftet.«
»Habt ihr das in der Schule gelernt?«, fragte ich.
Sie nickte eifrig. »Wann können wir hingehen?«
»Tja, die Totenköpfe müssen warten – heute werden wir erst mal alles auspacken.«
Zunächst plagte ich mich eine halbe Stunde damit ab, das große Tor zu öffnen, um das Auto später in die Garage fahren zu können. Das Tor ließ sich kaum bewegen. Es war von Efeu und anderen rankenden Pflanzen überwuchert, und ich musste es mühsam davon befreien. Als ich das Tor endlich öffnete, quietschte es schmerzhaft in den Ohren, und ich nahm mir vor, bei der nächsten Gelegenheit etwas zu kaufen, um es zu ölen.
Bevor ich wieder ins Haus ging, blickte ich in Richtung Wald, wo Aurora gestern die dunkle Gestalt wahrgenommen hatte. Weit und breit war niemand zu sehen; jetzt am Vormittag warfen die Bäume kaum Schatten in den Garten. Ich hörte Vogelgezwitscher und ganz in der Ferne die Stimmen von ein paar Radfahrern oder Wanderern. Eine Weile blieb ich stehen, genoss die frische, harzige Luft und die Stille. Dann drehte ich mich um und blickte hoch zu den Bergen. Während in den Schluchten noch der Dunst festsaß, traten weiter oben schroffe, schneebedeckte Gipfel aus dem grauen Licht. Als ich den Blick senkte, sah ich zum ersten Mal das Gebäude, das der Villa am nächsten lag – schräg über mir, in den Hang gebaut, nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt. Als Auffahrt wurde wahrscheinlich die Parallelstraße genutzt. Anders als die Villa, an der deutlich die Spuren der Zeit genagt hatten, schien dieses weiße Haus sehr modern. Soweit ich erkennen konnte, bestand die Vorderfront aus nichts anderem als riesigen Glasfenstern, das Dach war flach und der Rasen sorgfältig gemäht. Warum war es mir bislang nie aufgefallen?
Ich wandte meinen Blick ab und ging wieder hinein. Später putzte ich die Küche und das Wohnzimmer, hängte ein paar Bilder an den Wänden auf und schmückte die Räume mit Kissen und Decken. Alles sah nun etwas behaglicher aus – nur mein künftiges Arbeitszimmer war noch völlig verstaubt und mit einem Berg von unsortierten Bücherkisten vollgestellt.
In den nächsten Monaten stand mir viel Arbeit bevor – ich musste ein Buchprojekt abschließen.
So wie ich es einst angekündigt hatte, war es auch gekommen. Ich hatte mich daran gehalten und in all den Jahren nie wieder Klavier gespielt, aber der Musik hatte ich nicht ganz den Rücken zugewandt. Im Wintersemester nach Auroras Geburt hatte ich begonnen, Musikwissenschaft und Geschichte zu studieren, und nach dem Abschluss hatte ich begonnen, freiberuflich für einen großen Salzburger Musikverlag zu arbeiten. Den Kontakt hatte noch Professor Wagner hergestellt, obwohl er mir nicht verzeihen konnte, dass ich mein Klavierstudium so abrupt abgebrochen hatte. Zunächst hatte ich in der Presseabteilung angefangen, mich dann als Lektorin versucht, und schließlich hatte mir der Verlagsleiter vorgeschlagen, eigene Projekte zu entwickeln – nämlich eine Reihe von eher unterhaltsamen als wissenschaftlich ausgerichteten Musikerbiographien. Sie verkauften sich gut und bekamen lobende Besprechungen.
Genau genommen wäre es nicht einmal notwendig gewesen, zu arbeiten. Mein Vater hatte mir damals vor drei Jahren nicht nur die Villa am Hallstättersee hinterlassen, sondern mich als Alleinerbin
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