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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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worden war. An der Vorderfront war die ursprüngliche lindgrüne Farbe des Verputzes noch gut zu erkennen – an den meisten anderen Stellen aber war er abgebröckelt. Die Erker, einst strahlend weiß, waren schmutzig grau und von einigen tiefen Sprüngen zerfurcht. An mehreren Stellen rankte Efeu hoch, doch die Blätter hatten längst ihr kräftiges Grün verloren, waren verwelkt und teilweise zu Boden gefallen, wo sie zu einer schmierigen, bräunlichen Masse verrotteten. In der Nähe des Bodens wies das Gemäuer mehrere von dunklem Schimmel umkränzte, feuchte Flecken auf. Die Dachziegel hatten wohl irgendwann einmal rot geleuchtet – nun war die Farbe längst verblasst und von einer modrig grünen Schicht überzogen. Einige Ziegel fehlten sogar, so dass das darunterliegende Holz frei lag und bereits morsch geworden war. Bei heftigen Regenfällen, so war ich mir sicher, tropfte es wahrscheinlich in die oberen Räume, aber diese würden wir ohnehin nicht benutzen. Neben Küche und Bad hatte ich das Wohnzimmer herrichten lassen, außerdem das kleine Esszimmer daneben, das als Auroras Kinderzimmer dienen würde. Den achteckigen Salon im ersten Stock würde ich zum Arbeiten nutzen.
    Ich nahm die staunende Aurora bei der Hand und zog sie zum Eingang.
    »Und das gehört wirklich uns?«, fragte sie beeindruckt.
    »Aber ja doch!«
    Das schmiedeeiserne Tor war von Rost überzogen und quietschte, als ich es öffnete. Ich musste mich mit aller Macht dagegenstemmen, um es aufzuschieben. Der kleine Weg, der zum Hauseingang führte, war völlig von Moos und Gras überwuchert. Als wir die Eingangstür der Villa erreichten, drehte sich Aurora einmal im Kreis. Das Grundstück war an drei Seiten von Tannen und Fichten begrenzt. Durch das dichte Geäst hindurch konnte man in der Ferne den See schimmern sehen. Gegen Westen hin wuchs eine verwilderte Hecke, die schon seit Jahren nicht mehr gestutzt worden war. Im ganzen Garten stand das Gras kniehoch – ausgenommen an jenen Stellen, wo es von Ästen und Zweigen niedergedrückt wurde, die die letzten Winterstürme von den Bäumen gerissen hatten. Im einstigen Blumenbeet, erkennbar an ein paar verwelkten Rosensträuchern, wucherten Büsche, Wurzeln und Unkraut.
    Ich schob den Gedanken an die viele Arbeit, die es bedeuten würde, aus diesem Urwald einen ansehnlichen Garten zu machen, weit von mir.
    »Schau doch!«, rief Aurora.
    Sie deutete begeistert auf ein rundliches Gebilde, das wohl einst als Pergola gedient hatte, in der die Wiener Kaufmannsfamilie ihren Nachmittagskaffee getrunken hatte. Jetzt war sie bis oben hin mit Geräten vollgestellt: Schubkarren, Rechen und ein Besen waren darunter, sogar ein alter, völlig verrosteter Rasenmäher.
    »Pass schön auf!«, rief ich Aurora nach, als sie darauf losstürmte, um alles genauer zu betrachten.
    Während sie den Garten erforschte, betrat ich das Haus und riss eilig alle Fenster auf. Ich hatte die Räume in den vergangenen Wochen immer wieder durchgelüftet, dennoch lag der leicht modrige, stickige Geruch, der alten Häusern eigen ist, in der Luft.
    Ich holte zunächst nur das Nötigste aus dem Auto; in einer Tasche befanden sich Butterbrote und eine Tütensuppe. Als ich den Wasserhahn in der Küche aufdrehte, floss zunächst eine bräunlichrote Brühe stockend aus der Leitung, doch nach einer Weile wurde das Wasser klar, und ich konnte die Suppe kochen.
    Ich musste Aurora regelrecht zwingen, hereinzukommen. Als sie endlich am Wohnzimmertisch saß, war sie zu aufgeregt, um überhaupt etwas zu essen. Fasziniert starrte sie auf den großen, steinernen Kamin, dessen Wände schwarz vor Ruß waren.
    »Können wir ein Feuer machen?«, fragte sie, bereit, sofort zur Tat zu schreiten.
    »Nicht jetzt im Sommer«, erklärte ich knapp.
    Endlich fing Aurora an, die Suppe zu essen. Etwa zehn Löffel führte sie unendlich langsam zum Mund, dann behauptete sie, satt zu sein, und schob den noch halbvollen Teller energisch zur Seite. Sie sprang auf und musterte das Wohnzimmer eingehend; die riesige Bücherwand hatte es ihr offensichtlich angetan. Ich überflog die Titel auf den Buchrücken – viele davon brüchig und verstaubt –, und stellte fest, dass es vor allem alte Lexika waren, die der einstige Besitzer gesammelt und die mein Vater von ihm übernommen hatte. Wenn ich irgendwann die Zeit hatte, würde ich sie durchgehen und einen Teil davon in einem Antiquariat verkaufen, beschloss ich. Doch jetzt musste ich erst einmal das restliche Gepäck

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