Der Kuss des Morgenlichts
Nele tat es gleich ab und meinte, dass sie womöglich nur eine eigenbrötlerische Phase durchmache.
»Wenn es nur das wäre!«, rief ich. »Aber es ist viel schlimmer!«
»Was? Was ist viel schlimmer?«
»Am besten du siehst es dir selbst an.«
Ich forderte sie auf, mit mir ins Kinderzimmer zu kommen, öffnete leise die Tür und ließ ihr den Vortritt. Als Nele Aurora auf ihrem Bett sitzen sah, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig. Sie grinste nicht länger amüsiert über meine übertriebene Sorge. Sie trat zurück und prallte gegen mich. Als sie meinen Blick suchte, waren ihre Augen weit aufgerissen.
»Was macht sie denn da?«, fragte Nele erschrocken.
»Verstehst du nun, warum ich mir solche Sorgen mache?«, flüsterte ich ihr zu.
Betroffen senkte Nele ihren Kopf und nickte. »Ja«, gab sie zurück, »ja, jetzt verstehe ich dich.«
Ich konnte einfach keinen Schlaf finden. Ich setzte mich auf und rieb meine Schläfen. Mein Nacken fühlte sich steif an, irgendetwas schien sich in meinem Kopf zu verknoten und führte zu stechenden Schmerzen. Vielleicht sollte ich aufstehen und eine Tablette nehmen. Aber ich wusste nicht, in welche Tasche ich die Medikamente gepackt hatte. Aufseufzend ließ ich mich wieder aufs Kissen fallen. Vielleicht kamen die Kopfschmerzen ja von der langen, anstrengenden Fahrt, vielleicht aber auch von dem Bild, das sich in mein Hirn eingebrannt hatte und mich fortwährend verfolgte.
Das Bild von Aurora, wie sie in ihrem Kinderzimmer hockt, auf ihrem Bett, die blauen Augen weit aufgerissen …
Aurora blickte nicht etwa auf mich oder Nele – sie hatte uns gar nicht bemerkt –, sondern schien auf einen imaginären Punkt in der Ferne zu starren. Sie saß im Schneidersitz und wippte mit ihrem Oberkörper hin und her. Mittlerweile wusste ich, dass sie stundenlang in diesem Zustand verharren konnte – völlig weggetreten und versunken, taub und blind für die Welt um sich herum.
»Mein Gott, was tut sie da nur?«, flüsterte Nele zutiefst verstört. »Das ist ja, das ist ja wie eine … «
»Wie eine Trance«, beendete ich an ihrer Stelle den Satz.
»Und du sagst, das ist schon öfter vorgekommen?«
»Vor einigen Wochen habe ich sie das erste Mal so gesehen«, berichtete ich. »Ich dachte mir erst, sie würde nur Spaß machen, und die ersten Male hat es auch immer nur sehr kurz gedauert, höchstens ein paar Minuten. Aber mittlerweile hockt sie halbe Tage lang so da. Und auch sonst … « Ich seufzte. »Sie ist irgendwie nicht mehr sie selbst. Du weißt, dass sie immer ein wenig verträumt war, aber jetzt scheint es, als würde sie mit offenen Augen schlafen. Und wenn sie tatsächlich schläft, wacht sie meist schreiend auf. Ich glaube, sie hat Alpträume, aber sie erzählt mir nichts davon, auch wenn ich sie noch so oft darum bitte. Überhaupt erzählt sie mir kaum etwas. Manchmal sieht sie mich an und gleichzeitig durch mich hindurch. Sie stößt mich von sich, wenn ich sie umarmen will, und ich kann mich auch nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal wirklich von Herzen gelacht hat.«
Nele zog ratlos die Stirn in Falten.
»Sie ist mir so fremd. Ich finde überhaupt keinen Zugang mehr zu ihr. Sag, könnte es sein, dass sie … dass sie … « Ich zögerte, meine schlimmste Befürchtung auszusprechen, atmete dann aber tief durch und fragte: »Könnte es sein, dass sie autistisch ist?«
Nele überlegte eine Weile, aber schüttelte schließlich den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Bei Autismus fallen die Symptome schon viel früher auf. Sie hat doch auch nie Schwierigkeiten mit dem Sprechen gehabt.«
»Aber was ist es dann?«, rief ich verzweifelt.
»Lass mich etwas versuchen … «, sagte Nele schließlich.
Langsam ging sie auf Aurora zu und setzte sich neben sie aufs Bett. Ich erwartete, dass sie sie an den Schultern fassen und rütteln würde, so wie ich es oft getan hatte, leider immer ohne Erfolg, doch Nele wahrte Distanz. Aurora blickte weiterhin starr auf den imaginären Punkt, ihr Oberkörper wippte hin und her, hin und her, hin und her … Ich ertrug es kaum, ihr dabei zuzusehen.
Da hob Nele plötzlich die Hand, hielt sie direkt vor Auroras Gesicht und schnipste laut mit den Fingern.
Ein Ruck ging durch Auroras schmächtigen Körper; sie hörte zu wippen auf, hob den Kopf und blickte Nele verwirrt an, so als erwache sie aus einem tiefen, langen Schlaf.
Ein ebenso verblüffter wie erleichterter Aufschrei entrang sich mir.
»Hallo, Tante
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