Der Kuss des Morgenlichts
ins Haus schaffen. Das Auto war bis oben hin vollgeladen. Zwar war ein Teil des Mobiliars der Villa noch verwendbar, aber es gab keine Bettwäsche, kein Geschirr, keine Handtücher oder einen Staubsauger. All das hatte ich von Salzburg mitnehmen müssen. Außerdem warteten viele Kartons Bücher, die ich zum Arbeiten brauchen würde, darauf, ins Haus geschleppt zu werden.
Mein Rücken schmerzte allein bei der Vorstellung, aber ich war fest entschlossen, diesen Kraftakt noch heute hinter mich zu bringen.
Aurora folgte mir nach draußen. Sie trug die leichteren Taschen hinein, blieb jedoch auf dem Weg zwischen Villa und Auto immer wieder stehen, um sich umzusehen. Das graue Dämmerlicht hatte in der Zwischenzeit sämtliche Farben geschluckt. Das Grün des Sees war verblasst, die Mondsichel, eben noch von Wolkenfäden zerfranst, hob sich scharf vom Himmel ab. Fliegen und Mücken, die mich umsurrt hatten, schwirrten auf der Suche nach Licht fort. Der Wald, bei unserer Ankunft noch kräftig grün, stand jetzt wie eine dunkle Mauer um das Haus. Die Baumkronen rauschten; eine Eule begann in der Ferne mit ihren samtigen Rufen. Wenn man genau hinhörte, konnte man auch vereinzelt das Geräusch von vorbeifahrenden Autos vernehmen, doch das Licht ihrer Scheinwerfer drang durch das dichte Geäst nicht bis zu uns durch.
Nachdem ich den Weg vom Auto zur Villa zum dritten Mal zurückgelegt hatte, blieb ich nachdenklich vor dem geöffneten Kofferraum stehen. Sollte ich das Auto hier draußen stehen lassen oder es in der Garage parken? Letzteres hätte bedeutet, das große Tor direkt neben dem kleinen, schmiedeeisernen öffnen zu müssen, und seinem Zustand nach zu urteilen, hatte das schon lange niemand mehr getan. Ich zögerte, ob ich mir diese Anstrengung zumuten sollte, entschied mich schließlich dagegen und nahm die letzte Tasche aus dem Kofferraum. Ich schlug ihn zu, verriegelte das Auto – und erschrak.
Aurora hatte wenige Schritte vom Auto entfernt innegehalten. Sie stand stocksteif wie eine Marmorstatue und starrte in Richtung Wald. Vor ihren Füßen lag eine Plastiktüte mit einigen ihrer Stofftiere. Achtlos hatte sie sie fallen lassen und nicht bemerkt, dass der Hase, den Nele ihr zum fünften Geburtstag geschenkt hatte, einfach herausgekullert und neben einem der Autoreifen liegen geblieben war.
»Aurora!«
Meine Stimme klang schrill. Es war nicht das erste Mal, dass ich sie in diesem Zustand erlebte, doch er erschütterte mich wie immer zutiefst.
»Aurora!«
Ich schrie ihren Namen erneut, doch sie antwortete nicht, zuckte nicht einmal zusammen.
Auch ich ließ nun meine Tasche fallen. Ich stürzte zu Aurora, packte sie an den Schultern und schüttelte sie leicht. »Aurora, was ist mit dir los?«
Sie hob den Kopf, und in ihrem Gesicht spiegelte sich bodenloses Entsetzen. Der Lichtschein aus der halbgeöffneten Haustür war nur schwach. Dennoch entging mir nicht, dass ihre Lippen bebten und sogar ihre Zähne klapperten. Ohne Zweifel war es in der letzten Stunde abgekühlt, dennoch war die Luft immer noch sommerlich lau.
»Aurora!« Ich hockte mich zu ihr, wollte sie an mich ziehen und sie wärmen, aber sie wich zurück.
»Er ist da«, sagte sie leise.
Ich war nicht sicher, ob ich ihre Worte richtig verstanden hatte. Die Silben wurden von ihrem Zähneklappern zerhackt und ergaben keinen Sinn.
»Was sagst du?«
Das Zittern ließ etwas nach. »Er ist da«, wiederholte sie und drehte den Kopf wieder in die Richtung, in die sie vorhin so angespannt gestarrt hatte. Ich folgte ihrem Blick. Der Himmel war nun so dunkel, dass sich die Bäume kaum davon abhoben. In den Kronen raschelte immer noch der Wind; zum Ruf der Eule gesellte sich das schrille, spitze Geschrei eines Kauzes.
»Hallo?«, rief ich energisch in die Dunkelheit. Kurz glaubte ich eine Bewegung wahrzunehmen: Durch die dicht beisammenstehenden Stämme huschte eine schwarze Gestalt, deren Schritte vom weichen Moos geschluckt wurden. Doch wenig später war ich mir nicht mehr sicher, ob ich nicht einer Sinnestäuschung erlegen gewesen war. Vielleicht wurde nur ein abgeknickter Ast vom Wind sacht hin- und hergeschaukelt.
»Hallo?«, rief ich wieder. Ich ließ Aurora los und schritt entschlossen auf den Wald zu. Wenn sich tatsächlich jemand dort versteckt hatte und uns beobachtete, sollte er nicht glauben, mich so leicht erschrecken zu können.
»Nicht, Mama!« Auroras zarte Hand griff nach meiner und hielt mich zurück.
Ihre Stimme klang so panisch,
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