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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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eines beträchtlichen Vermögens eingesetzt.
    Je länger ich auf die vollen Bücherkisten im Arbeitsstimmer starrte, desto mehr schwand meine Lust, mit dem Auspacken zu beginnen. Schließlich entschied ich, diese Arbeit – ebenso wie das Fensterputzen – auf die nächsten Tage zu verschieben und stattdessen mit Aurora einkaufen zu fahren. Unterwegs hielten wir an einem kleinen Gasthof, wo Aurora zwar nicht viel, aber ohne Murren aß.
    Ich wusste nicht, wo sich der nächste große Supermarkt befand, und so hielt ich beim nächstgelegenen Laden – einem, wie man sie nur noch in abgelegenen Dörfern findet. Hier konnte ich das Nötigste beschaffen, um später einen Großeinkauf bei Eurospar, Hofer oder Billa zu machen. Der Laden war kaum einen halben Kilometer von der Villa entfernt. Ich konnte künftig auch zu Fuß hierhergehen oder mit einem Fahrrad fahren. Während ich überlegte, ob ich mir eines kaufen oder für den Sommer ausleihen sollte, hatte Aurora unweit des Ladens einen Spielplatz entdeckt – eine runde Fläche inmitten von Bäumen mit einer schiefen Schaukel, einer alten Rutsche und einem verrosteten Karussell. Sehnsüchtig sah sie zur Schaukel hinüber. Kurz zögerte ich, sie allein dorthin zu lassen, aber dann sah ich eine Frau mit zwei Kleinkindern auf den Spielplatz zusteuern.
    »Gut, lauf hinüber, und warte dort auf mich.«
    Ich blickte ihr nach, wie sie zur Schaukel lief, dann ging ich auf den Laden zu. Eine Glocke klingelte schrill, als ich die Tür öffnete. Das Sortiment war überschaubar; es gab alles, was man brauchte – Waschpulver, Zahnbürsten, Nudeln, Konserven, Obst und Käse –, alles in kleiner Auswahl. Da es keinen Salat gab, kaufte ich einen Kohlkopf, anstelle von Bananen Birnen, und kaufte auch das einzig vorrätige Tiefkühlgemüse, nämlich Erbsen.
    Ich legte die Waren in einen kleinen Korb und lief damit durch die schmalen Gänge zur Kasse, die mit Paketen, Dosen und Flaschen ganz zugestellt war. Erst als ich näher trat, konnte ich die Verkäuferin erkennen, die dahintersaß – eine ältere Frau, die grauen Haare zu einem Knoten hochgesteckt, mit einer braunen Weste über dem weißen Arbeitskittel, einer dicken Brille und einem freundlichen, verschmitzten Lächeln.
    Vor ihr stand eine Kundin, die den Laden auch dann nicht verließ, als sie schon längst gezahlt, umständlich ihre Einkäufe und dann auch ihre Geldbörse verstaut hatte. Ihrer Art zu sprechen nach kam sie aus Deutschland und schien hier Urlaub zu machen. Sie trug einen schweren Lodenmantel, der bestimmt sehr teuer gewesen war, aber für diesen Sommertag viel zu warm schien.
    »Haben Sie schon davon gehört? Es ist schon wieder einer verschwunden.«
    Sie deutete auf den Zeitungsstapel, der neben der Kasse lag. Die ältere Frau schüttelte den Kopf und seufzte.
    »Diesmal war’s ein Mountainbiker!«, sagte die deutsche Touristin. »Drei Menschen in drei Wochen – wie vom Erdboden verschluckt! Zuerst zwei Bergsteiger, und jetzt der da.«
    Sie zeigte auf das Foto, das unter der Schlagzeile abgebildet war, nur schwarz-weiß und so undeutlich, dass sich kaum ein Gesicht erkennen ließ.
    »Die Leute unterschätzen oft das Wetter«, meinte die Verkäuferin. »Oben auf dem Berg kann es schnell kippen. Man wandert bei Sonnenschein los und gerät plötzlich in einen eiskalten Sturm.«
    »Aber dass Menschen einfach verschwinden! Dass man sie nicht findet!«
    »Das Gebiet ist sehr groß … «
    Die Touristin schnaubte und wirkte aufgebracht. Sie schien empört darüber zu sein, dass ihr ursprünglich so traumhaft schönes Urlaubsgebiet sich als solch eine bedrohliche Gegend entpuppte, wo Bergsteiger jederzeit abstürzen konnten. Jetzt bückte sie sich nach ihrer Einkaufstasche und verließ den Laden. Wieder schrillte die Glocke.
    Die Verkäuferin wandte sich mir lächelnd zu und tippte schweigend die Preise in die Kasse ein. Ich kramte nach meiner Geldbörse.
    »Machen Sie hier Urlaub?«, fragte sie unvermittelt.
    Ich lugte aus dem Fenster, um nach Aurora zu sehen. Sie saß versonnen auf der Schaukel. Mittlerweile waren noch weitere Kinder und Mütter auf dem Spielplatz.
    »Ich wohne in der Villa, die ich von meinem Vater geerbt habe«, antwortete ich, »zumindest den Sommer über.«
    Ich deutete in Richtung des Bergs.
    »Ach, etwa in der Leiningen-Villa?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob sie so heißt. Ich habe nur gehört, dass sie von einer Wiener Kaufmannsfamilie im 19. Jahrhundert errichtet

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