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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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die es hier zu tun gab, übersah ich geflissentlich, während Aurora um mich herumsprang, Blumen pflückte oder Ball spielte und nichts mehr mit dem lethargischen Kind gemein hatte, um das ich mich so gesorgt hatte.
    Mehrmals gingen wir zu dem Spielplatz neben Josephines Laden. Ich saß dort auf der Bank, las Bücher für meine Arbeit und hob dann und wann den Blick, um zuzusehen, wie sich Aurora mit den anderen Kindern anfreundete.
    Eigentlich tat sie sich schwer, auf Gleichaltrige zuzugehen und Freundschaften zu knüpfen. Ich konnte sie gut verstehen, da es mir selbst genauso schwerfiel und ich bis auf Aurora und Nele niemanden an mich heranließ. Ich hatte mir immer gewünscht, es würde ihr leichter fallen und sie würde Freundinnen finden, und auch viel getan, um ihr dabei zu helfen – leider ohne großen Erfolg. Es gab Kindergeburtstage, zu denen ich ihre halbe Kindergartengruppe und später ihre Schulklasse eingeladen hatte, um am Ende trotz allem erleben zu müssen, dass die Kinder einträchtig miteinander spielten, während Aurora in der Ecke saß und zusah. Hier schien alles deutlich einfacher. Die zwei Jungen und ein größeres Mädchen aus der Nachbarschaft sprachen nicht viel und schienen das im Gegenzug auch nicht von ihr zu erwarten, und bei ihrem Spiel, wer wohl am weitesten springen konnte, ließen sie Aurora ohne zu zögern mitmachen. Zu meinem Erstaunen entwickelte sie einen richtigen Ehrgeiz, täglich besser zu werden.
    Ich lernte auch die Mütter der Kinder kennen, und manchmal wurde aus ein paar höflichen Sätzen über das Wetter ein kleines Gespräch: Ich erzählte ein wenig von uns und erfuhr im Gegenzug den neuesten Dorfklatsch. Sicherlich wurde mir nicht alles erzählt, weil ich eine Fremde war, aber das störte mich nicht, ich fühlte mich wohl. Am liebsten las ich.
    An einem Tag, als ich mit Aurora auf dem Spielplatz war, sah ich auch Josephine wieder. Sie war gerade damit beschäftigt, den Obststand vor ihrem Laden aufzufüllen, und als sie mich erkannte, winkte sie mir zu. Ihr Lächeln war so warm und freundlich wie beim letzten Mal, aber auch aus der Distanz hatte ich das Gefühl, es würde heute ihre Augen nicht erreichen. Es dauerte ziemlich lange, bis der Obststand aufgefüllt war; ihre Bewegungen wirkten zögerlich, so, als würde ihr Rücken schmerzen. Außerdem drehte sie sich mehrmals in die eine oder andere Richtung, so als würde sie nach jemandem Ausschau halten. Irgendwie schien sie besorgt zu sein.
    Ich überquerte die Straße und ging auf den Laden zu. Bei meinem Einkauf war die Auswahl an frischem Obst und Gemüse mehr als überschaubar gewesen, aber die roten Äpfel sahen süß und saftig aus, und ich wollte ein paar für Aurora und mich kaufen. Noch ehe ich diesen Wunsch äußern konnte, hatte Josephine bereits selber ein paar von ihnen in eine Papiertüte gesteckt.
    »Für Sie und Ihre Tochter!«, rief sie und winkte ab, als ich nach meiner Geldbörse kramen wollte.
    »Das ist doch nicht nötig … «
    Sie aber bestand darauf, und so dankte ich ihr herzlich und wollte zurück zum Spielplatz gehen. Ich hatte die Straße fast erreicht, als sie mich aufhielt.
    »Haben Sie … haben Sie es schon gehört?«
    »Was?«
    Eben noch hatte die Sonne gebrannt, nun zogen graue Wolken auf und mit ihnen ein kühler Wind. Josephine deutete auf den Zeitungsstand, doch der Wind schlug die oberste Seite um, so dass ich die Schlagzeile nicht lesen konnte.
    »Zunächst dachte ich auch, die Presse übertreibt wieder mal, aber jetzt … «
    »Was ist passiert?«
    »Sie … sie haben die Menschen gefunden.«
    Erst hatte ich keine Ahnung, wovon sie sprach, aber dann erinnerte ich mich an unser letztes Gespräch – an die Wanderer und Mountainbiker, die verschwunden waren, und an die deutsche Touristin, die das nicht nur beunruhigt, sondern richtiggehend empört hatte.
    »Wo?«, fragte ich. »Wo haben sie sie gefunden?«
    Josephine begann den Kopf zu schütteln; sie wirkte erschüttert, und in ihr ohnehin schon faltiges Gesicht gruben sich noch tiefere Furchen ein. Der Wind löste einige graue Strähnen aus ihrem Haarknoten. »Eine wirklich schlimme Geschichte … «
    »Sind sie in ein Unwetter geraten? Oder abgestürzt?«
    »Nein, sie sind … ermordet worden.«
    »Alle?«, fragte ich entsetzt.
    »Ja, alle drei«, bestätigte Josephine.
    Eine Weile standen wir schweigend voreinander. Ich hatte die Tüte mit den Äpfeln unwillkürlich an meine Brust gepresst.
    »Und wie?«, fragte ich

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