Der Kuss des Morgenlichts
darauf bestanden hatte, unbedingt hierzubleiben.
»Aurora, ich weiß wirklich nicht, ob … «
Cara machte sich von Aurora los und trat zu mir. Ihre Schritte waren geschmeidig, fast lautlos.
»Lassen Sie es uns doch eine Woche versuchen«, sagte sie mit dieser wohlklingenden Stimme, die wahrscheinlich noch den panischsten Menschen besänftigen konnte. »Dann sehen wir weiter.«
Es fiel mir nicht leicht, es zuzugeben, aber Cara Sibelius erwies sich als Segen. Zunächst war es mir unheimlich, wie schnell Aurora Vertrauen zu ihr fasste. Schon am ersten Tag wich sie nicht mehr von ihrer Seite: Zuerst zeigte sie ihr den Garten und den Forstweg. Später fand ich Aurora auf Caras Schoß vor, während diese ihr aus einem Buch vorlas. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus – wobei ich Aurora wirklich gut verstehen konnte. Cara wirkte ruhig und entspannt; alles, was sie sagte, klang vernünftig und durchdacht; ihr Lächeln war warm und herzlich. Nach wenigen Tagen hatten sich meine Zweifel zerstreut, und nach der Probewoche war es keine Frage mehr, dass sie weiter zu uns kommen sollte.
Sie kam immer absolut pünktlich mittags um eins – blieb aber meist länger als vereinbart, meist bis zur Dunkelheit. Ich dachte darüber nach, ob sie wohl kein Privatleben hatte, fragte aber nicht nach, viel zu erleichtert, dass Cara oft auch zum Abendessen blieb und Aurora so klaglos ihren Teller leer aß.
Auch sonst schien sie in Caras Gegenwart regelrecht aufzublühen. Sie legte nicht nur an Gewicht zu, sondern bekam eine rosige Gesichtsfarbe, wurde von Tag zu Tag tatenhungriger und begieriger, die Umgebung zu erforschen. Anfangs wollte ich sie immer in meiner Nähe wissen, wenn ich oben arbeitete, damit ich regelmäßig einen Blick in den Garten oder in das Wohnzimmer werfen konnte.
Doch schon nach wenigen Tagen zögerte ich nicht länger, auch größere Ausflüge zuzulassen – und war dankbar für die Möglichkeit, konzentriert an meinem Text arbeiten und Telefonate führen zu können. Aufgeregt berichtete mir Aurora am Abend von dem, was sie erlebt hatten – einmal ein Ausflug in das Bergwerk von Hallstatt, einmal ein Besuch der Eishöhlen auf dem Dachstein.
»Wir sind durch ganz lange Gänge gegangen – immer tiefer in die Höhle hinein! Und dann kamen wir in eine Tropfsteinhalle und dahinter in den König-Artus-Dom. Da waren überall riesige Felsblöcke! Stell dir vor, hier hat man vor einiger Zeit Knochen von Höhlenbären gefunden. Und dann sind wir zum Eispalast gegangen und zum großen Eisberg, der ist fast zehn Meter hoch. Und wie das Eis gefunkelt hat! Es hat ausgesehen, als wäre die ganze Höhle voller Diamanten.«
Sie machte eine kurze Pause, dann fügte sie in erklärendem Ton hinzu: »Das Eis bildet sich durch Sickerwasser, das vom Dachsteinplateau durch Fugen und Spalten im Fels in die Höhle gelangt. Wenn die Außentemperaturen über dem Gefrierpunkt liegen, in den Höhlenräumen aber noch Kaltluft lagert, friert das eindringende Wasser, und auf diese Weise entstehen die Eisobjekte.«
Als sie mir all das so genau berichtete, packte mich wieder die Unruhe, doch ihre strahlenden Augen ließen mich über meine Ängste hinwegsehen. Vor allem eins beschwichtigte mich: Seit Cara aufgetaucht war, gab sich Aurora nicht länger spröde, suchte nicht nur ihre körperliche Nähe, sondern auch meine, und das so selbstverständlich, dass ich nicht begreifen konnte, warum ich je gezögert hatte, sie zu berühren. Immer noch gab es keine Erklärung für viele ihrer Verhaltensweisen. Doch bis auf ihren enormen Wissensschatz, den man erahnen konnte, wenn sie wie nebensächlich Informationen einstreute, war nichts Ungewöhnliches mehr.
Anfang Juli wurde es drückend heiß. Selbst in der Nähe des kühlen Sees blieb die Schwüle hartnäckig. Das Arbeiten fiel mir schwer, und immer öfter begleitete ich Aurora und Cara zu den umliegenden Seen, dem Altausseer- oder dem Grundlsee, um dort zu baden. An der Oberfläche war das Wasser angenehm warm, gleich darunter jedoch eisig kalt und eine herrliche Abkühlung.
An einem Tag kam Cara schon etwas früher, weil ich nach Salzburg fahren wollte. Ich hatte erst einen Termin im Verlag, wo mittlerweile ein Teil meines Manuskripts vorlag, später eine Verabredung mit einem Universitätsassistenten, der wie ich an einem Buch über Anton Bruckner arbeitete. Eigentlich hätte ich gerne auch Nele besucht und mich bedankt, dass sie uns Cara vermittelt hatte, doch sie war noch verreist.
Auf
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