Der Kuss des Morgenlichts
Hand entgegen, deren Haut ebenso blass und fein wie die ihres Gesichts war. Ihr Druck war kaum spürbar.
Ich hatte nicht mehr daran gedacht, aber jetzt fielen mir Neles Worte ein … wie sie mich davon überzeugen wollte, mir ein Kindermädchen zu suchen.
Anscheinend war Nele nicht untätig geblieben und hatte noch an dem Tag vor ihrer Abreise jemanden gesucht und hierhergeschickt.
So kannte ich Nele gar nicht – weder so schnell entschlossen noch so zupackend.
»Eigentlich … «, setzte ich unsicher an.
Hinter mir hörte ich Schritte. Ich fuhr herum und sah Aurora auf uns zukommen. Sie nahm meine Hand, schmiegte sich an meinen Körper – das erste Mal seit Tagen – und starrte die Fremde unverwandt an. Nach einer Weile verzogen sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln – ganz ohne Scheu.
Die Frau erwiderte das Lächeln.
»Ich heiße Cara Sibelius.«
»Sophie Richter«, gab ich zurück. Immer noch fühlte ich mich überrumpelt, aber ich bat sie trotzdem, hereinzukommen. Sie trat langsam, fast vorsichtig über die Schwelle, blieb dann im Gang stehen und sah sich um.
»Ihr Name«, murmelte ich, »Cara … das klingt sehr ungewöhnlich.«
»Cara ist italienisch. Es heißt Geliebte. Aber das Wort gibt es auch im Gälischen. Dort heißt es Freund.«
Noch ehe Cara überhaupt den Mund aufmachen konnte, hatte Aurora bereits diese Worte gesagt. Caras Lächeln verstärkte sich – ich hingegen erschauderte wie immer, wenn Aurora etwas sagte, was sie unmöglich wissen konnte.
»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen«, erklärte Cara. Ihr Blick war kaum merklich zur Küche gewandert, wo sich das Geschirr der letzten Tage ungewaschen in der Spüle stapelte. Überall lag etwas herum. Es war mir peinlich, dass ich bei dieser Nachlässigkeit ertappt wurde – für gewöhnlich erledigte ich solche Haushaltsarbeiten schnell und unverzüglich.
»Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich wirklich ein Kindermädchen brauche«, erklärte ich und schloss hastig die Küchentür. Ich überlegte, in welchem Zustand sich das Wohnzimmer befand, und ob ich sie guten Gewissens dorthin führen konnte. Doch Cara rührte sich ohnehin nicht.
»Wenn ich störe, dann sagen Sie es mir nur«, erklärte sie leise, und jetzt erst fiel mir auf, wie unglaublich melodiös ihre Stimme war.
»Du störst nicht«, kam Aurora mir zuvor. »Und du kommst auch nicht ungelegen.«
Woher nahm sie die Selbstverständlichkeit, diese fremde Frau so selbstverständlich zu duzen? Ansonsten wahrte sie gegenüber Erwachsenen doch immer Distanz.
»Ich bräuchte ein Kindermädchen auch nicht für ganze Tage«, sagte ich mit leicht zittriger Stimme, »nur nachmittags, zwei, drei Stunden vielleicht … wenn ich schreibe. Aber auch das ist … «
»Das ginge gut«, fiel sie mir ins Wort. »Ich arbeite am Vormittag im hiesigen Kindergarten.«
»Aha.«
Etwas anderes verwunderte mich. Wie kam Nele an eine Hallstätter Kindergärtnerin? Hätte sie mir nicht erzählt, wenn sie sich hier umgehört hätte?
Verlegen trat ich von einem Fuß auf den anderen und überlegte, ob ich ihr etwas anbieten sollte. Doch wieder kam mir Aurora zuvor. Sie trat auf Cara zu und ergriff ihre Hand.
»Komm!«, sagte sie knapp, dann zog sie sie ins Wohnzimmer. »Vom Fenster aus kann man den Hallstättersee erkennen.«
Man musste genau hinsehen, um in der Ferne jenen schmalen, dunkelgrüner Streifen auszumachen, doch Cara nickte.
»Der Hallstättersee ist 5,9 Kilometer lang und 2,3 Kilometer breit«, erklärte Aurora. »Er wird von der Traun durchflossen, befindet sich am nördlichen Fuß des Dachsteins und wird im Osten vom Sarstein begrenzt.«
Jedes Wort klang so, als würde sie einen Lexikonartikel auswendig heruntersagen.
»Aurora!«, unterbrach ich sie, viel schneidender, als ich wollte. Aurora verstummte.
»Wissen Sie«, wandte ich mich an Cara Sibelius, »vielleicht kommen Sie doch später wieder. Ich werde mir überlegen, ob ich wirklich ein Kindermädchen brauche. Geben Sie mir doch einfach Ihre Telefonnummer. Dann kann ich mich immer noch melden, wenn ich mich entschieden habe und … «
Ich kam nicht weiter. Aurora fixierte mich mit ihren hellen, blauen Augen. »Mama«, erklärte sie bestimmt. »Ich will, dass sie bleibt.«
Verwirrt starrte ich sie an. Der Ausdruck ihres Gesichts war ernst und entschlossen.
»Aber … «
»Bitte!«, sagte sie eindringlich, und dann noch einmal: »Ich will, dass sie bleibt.«
Ich fühlte mich so machtlos wie an dem Abend, an dem sie
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