Der Kuss des Morgenlichts
nicht helfen, aber ich finde, du solltest dir stundenweise jemanden suchen … für Aurora.«
»Warum denn?«, fragte ich verwirrt.
»Damit du in Ruhe arbeiten kannst! Damit du etwas Zeit für dich hast und zwischendurch ein wenig ausspannen kannst! Es gibt doch hier sicher jede Menge nette Mädchen im Ort, die sich etwas dazuverdienen wollen.«
Allein bei dem Gedanken, Aurora einem fremden Menschen anzuvertrauen, verkrampfte sich mein Magen.
»Bevor ihr hierhergezogen seid, habe ich mir vor allem um Aurora Sorgen gemacht«, fuhr Nele fort, »aber wenn ich ehrlich bin, mache ich mir jetzt Sorgen um dich. Hast du heute schon etwas gegessen?«
Ich wusste, dass Aurora ein Butterbrot gegessen hatte – aber ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, ob und wie viele ich selbst heruntergebracht hatte. Mein Magen fühlte sich leer an, aber richtigen Hunger hatte ich nicht.
»Ich mache dir jetzt etwas zu essen«, erklärte Nele entschlossen. »Ich kann zwar nicht gut kochen. Aber du wirst ja ein paar Nudeln und etwas Pesto im Haus haben, oder?«
Ich zuckte wieder mit den Schultern, aber da hatte sich Nele bereits erhoben und ging Richtung Küche. »Und du denkst darüber nach, ja? Ich meine, dir ein Kindermädchen zu suchen!«
Der Gedanke gefiel mir ganz und gar nicht, aber um mit Nele nicht länger darüber diskutieren zu müssen, nickte ich schwach.
Es kam schneller, alles so viel schneller, als er erwartet hatte, und er wusste nicht, ob er deshalb zufrieden sein sollte oder alarmiert.
Aurora war in dieser Phase sehr zerbrechlich. Etwas könnte schiefgehen, könnte sie für immer zerstören. Und was, wenn Sophie nicht damit fertig wurde? Wenn sie durchdrehte?
Andererseits war er zutiefst erleichtert, dass dieses mühsame, quälende Warten endlich dem Ende zuging. Kein gewöhnlicher Mensch hätte so viel Ausdauer gezeigt, so viel Selbstbeherrschung und Entschlossenheit. Er hatte nicht nur Tage, Wochen, Monate oder Jahre gewartet. Genau genommen waren es Jahrzehnte gewesen. Jahrhunderte. Sein Warten hatte schließlich nicht nur IHR und dem Kind gegolten … sondern auch etwas ganz anderem.
Das Einzige, was ihn aufrecht hielt, war die Ahnung des Glücks, das ihn erwartete. Zumindest, wenn alles gutging, wenn niemand ihm in die Quere kam, wenn Sophie durchhielt.
Der Druck, der auf ihm lastete, wurde fast unerträglich. Er bemerkte kaum, wie er den Baumstamm, hinter dem er sich versteckte, mit beiden Händen umfasste. Er spürte nicht, wie sich die raue Rinde schmerzhaft tief in die Haut seiner Hände bohrte. Doch als ein bedrohliches Knirschen erklang und viele kleine Nadeln auf ihn herabregneten, sprang er hastig zurück. Hätte dieser Moment der Unachtsamkeit nur einen Augenblick länger gewährt – er hätte den Baum entwurzelt.
Welch eine Torheit!
Ja, Sophie musste durchhalten, aber er auch. Der geringste Fehler würde zunichte machen, was er bis ins kleinste Detail genau geplant hatte.
Zwei Tage später läutete es früh morgens an der Tür. Ich schmierte gerade ein Butterbrot, und das Messer entglitt meinen Händen. Nachdenklich, irgendwie abschätzend war Auroras Blick auf mich gerichtet. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie ich damit umgehen und wie ich die Distanz überbrücken sollte, die sich zwischen uns aufgetan hatte und die täglich weiter wuchs.
Hastig lief ich zur Haustür.
Wer kam unangemeldet hierher? Etwa ein Polizeibeamter, der noch Fragen wegen des Toten an mich hatte? Oder Caspar von Kranichstein, der vielleicht gehört hatte, dass ich gegen ihn Anzeige erstatten wollte?
Als ich die Tür aufriss, stand keiner von beiden vor mir, sondern eine junge Frau, die mich aus grünen Augen eindringlich musterte. Trotz meiner Anspannung fiel mir auf dem ersten Blick auf, wie unglaublich hübsch sie war. Sie war keine von diesen aufsehenerregenden, schrillen Schönheiten – dazu waren die graue Bluse und das weinrote Umhangtuch zu schlicht, und sie benutzte, soweit ich das sehen konnte, kein Makeup. Doch ihr herzförmiges Gesicht unter dichtem, glänzendem kastanienbraunen Haar war absolut ebenmäßig: die großen, leuchtenden Augen unter schmalen, geschwungenen Brauen, die feine Nase, die heraustretenden Wangenknochen, die weichen Lippen. Ihr Teint war hell und klar, nur an den Wangen leicht rosig.
Eine Weile starrte ich sie schweigend an.
»Ja?«, fragte ich schließlich.
»Ich habe gehört, dass Sie ein Kindermädchen für Ihre Tochter suchen.«
Sie streckte mir ihre überaus zarte
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