Der Kuss des Morgenlichts
Kindermädchen … du weißt schon: die junge Frau, die im Hallstätter Kindergarten arbeitet. Und die du zu mir geschickt hast, damit sie auf Aurora aufpasst.«
»Wovon redest du? Ich habe überhaupt niemanden geschickt.«
Ich fühlte, wie meine Hände schweißnass wurden. Beinahe wäre mir der Hörer entglitten.
»Vielleicht kennst du sie nicht persönlich … vielleicht hast du über irgendwelche Kontakte … « Mir fehlten die Worte.
»Was?«, machte sie verständnislos.
»Nele«, erklärte ich eindringlich und versuchte ruhig zu bleiben. »Du hast mir empfohlen, dass ich für Aurora ein Kindermädchen suche, damit ich in Ruhe arbeiten kann. Und zwei Tage später steht eine junge Frau vor der Tür und bietet ihre Hilfe an. Ich dachte, du hättest sie zu mir geschickt.«
Das Rauschen in der Leitung schwoll wieder an. »Es stimmt«, ich hörte Nele nur noch von ganz weit her, »es stimmt, dass ich dir das dringend gerate habe – aber ich habe ganz sicher niemanden zu dir geschickt. Wie sollte ich auch? Ich kenne in Hallstatt niemanden außer dir. Ist etwas nicht in Ordnung?«
Sie wartete meine Antwort nicht ab. »Sophie … ich muss jetzt wirklich mein Handy ausmachen, die Stewardess guckt schon ganz böse, also bis später … « Die letzten Worte gingen im Rauschen und Knacken unter, dann riss die Verbindung ab.
Eine Weile stand ich wie erstarrt; ich hielt den Hörer an mein Ohr gepresst, als würde ich doch noch eine Erklärung von Nele bekommen, wenn ich nur lange genug darauf wartete. Erst als das gleichmäßige Tüten unerträglich wurde, legte ich auf.
Ich setzte mich aufs Sofa – auf jene Stelle, wo vorhin Cara gesessen war, als sie ihr Telefonat geführt hatte.
Sie hat keine Ahnung.
Man sollte sie einweihen.
Die Zeichen sind seltener geworden, weil ich bei ihr bin.
Ich konnte mir nicht erklären, was diese Worte genau bedeuteten. Aber ich wusste, dass der Frieden der letzten Woche ein trügerischer gewesen und nun endgültig vorbei war.
Eigentlich wollte ich Cara erst am nächsten Morgen zur Rede stellen. Doch dann war ich viel zu aufgewühlt, um so lange zu warten. Ich würde in der Nacht keinen Schlaf finden, wenn ich die Sache nicht sofort klärte.
Cara hatte mir zu Beginn ihre Adresse genannt, und ich suchte jetzt ihre Straße auf dem Stadtplan von Hallstatt. Sie war nur wenige Kilometer von der Villa entfernt, und ich rang mit der Entscheidung, Aurora allein zurückzulassen oder sie aufzuwecken und mitzunehmen. Schließlich trat ich schweren Herzens ins Kinderzimmer, machte Licht und rüttelte sie sanft.
»Was ist denn los, Mama?«
»Es tut mir leid, mein Schatz … aber wir müssen zu Cara fahren. Jetzt sofort.«
Sie erhob sich widerstandslos und ließ sich von mir ankleiden, aber hielt die Augen dabei geschlossen. Ohne Fragen zu stellen, folgte sie mir zum Auto. Erst als ich sie angeschnallt hatte, öffnete sie ihre Augen richtig: »Du bist doch nicht böse auf Cara?«
»Nein, nein«, murmelte ich gedankenverloren und startete den Wagen. Als wir vom Haus wegfuhren, fragte ich: »Hat sie dir eigentlich gesagt, warum sie … warum sie ausgerechnet zu uns gekommen ist?«
Im Rückspiegel sah ich, wie Aurora sich schlaftrunken die Augen rieb. »Ich glaube, sie hat nach mir gesucht«, kam es leise.
Eben noch hatte ich ein schlechtes Gewissen gehabt, sie aufzuwecken – nun musste ich mich beherrschen, sie nicht ungeduldig anzufahren: Was heißt, nach dir gesucht ?
Was sollten diese merkwürdigen Andeutungen? All diese Geheimnisse?
Ich biss mir auf die Lippen und schwieg, aber ich konnte nicht verhindern, so heftig aufs Gaspedal zu drücken, dass die Reifen quietschten.
Ruhig!, versuchte ich mich zu beschwichtigen. Es ist nicht die richtige Zeit, um die Nerven zu verlieren! Es genügt doch, einmal fast im Straßengraben gelandet zu sein!
Rasch verdrängte ich den Gedanken an den Unfall, den ich damals fast gemacht hatte – und was darauf gefolgt war, und konzentrierte mich auf die Fahrbahn. Als ich endlich in der Straße ankam, wo Cara wohnte, fuhr ich mehrmals auf und ab, weil ich die Hausnummern nicht lesen konnte.
»Dort!«, sagte Aurora plötzlich und deutete auf ein gelbliches Gebäude. »Dort wohnt Cara.«
»Warst du schon einmal hier?«
»Nein, aber ich weiß es.«
Ich seufzte, sagte aber nichts.
Das Haus war schlicht, klein und altmodisch. Im Erdgeschoss befanden sich wohl etwa drei Räume. Im oberen Stockwerk war, dem Schild nach zu schließen, das am Gartentor
Weitere Kostenlose Bücher