Der Kuss des Morgenlichts
keine Ahnung, was sie meinte. Geistesabwesend stellte ich die Sachen neben die Kasse.
»Nein, nein«, murmelte ich.
»Ich habe mir gerade einen Tee gemacht«, meinte sie, »wollen Sie vielleicht eine Tasse?«
»Nein«, antwortete ich, »ich muss … was … was … « Ich riss mich zusammen, um meines Stammelns Herr zu werden. »Was haben Sie eben von dem Toten gesagt?«
Sie seufzte. »Ich habe gehört, dass Sie die Leiche gefunden haben. Das tut mir sehr leid. Es muss ein schrecklicher Anblick gewesen sein … «
Unwillkürlich schloss ich die Augen, doch da war keine gnädige Dunkelheit, die mich schützte. Sofort stieg das Bild auf – ich sah den weißen Körper, seine starren Augen, in denen sich Entsetzen spiegelte, und seine völlig verdreckten, aufgeschürften Hände, mit denen er sich bis zuletzt gewehrt hatte.
Die Ereignisse der letzten Tage hatten dieses Bild verdrängt – aus meiner Erinnerung löschen konnten sie es aber nicht. Ich erschauderte.
»Es stimmt«, sagte ich heiser, »ich habe ihn gefunden. Es heißt, dass er … dass er verblutet ist.«
Ich wusste nicht, ob ich das überhaupt erzählen durfte oder die Polizei die Details über die Todesursache noch geheim hielt, doch Josephine nickte mit gerunzelter Stirn.
»Das habe ich gelesen. Ich wollte Sie nicht unnötig daran erinnern. Nur jetzt, nachdem wieder … «
Sie brach ab, seufzte.
»Nachdem was?«, fragte ich und kämpfte darum, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.
Josephine sagte nichts mehr, aber ich las es in ihrem Blick – zugleich mitleidig, abgestoßen und besorgt.
»Sind … sind etwa wieder Menschen verschwunden?«
Immer noch sagte sie nichts, sondern starrte mich nur an.
»Sie sind nicht nur verschwunden«, schloss ich aus ihrem Schweigen. »Ihre Leichen sind bereits wieder aufgetaucht … « Ich konnte nur flüstern.
Endlich nickte sie. »Zwei Wanderer waren es diesmal … «, berichtete sie, »sie waren gemeinsam unterwegs … Sie sind nicht verblutet, sondern … « Sie atmete tief durch, schien mit sich zu ringen. »Sondern enthauptet worden«, setzte sie schließlich kaum hörbar hinzu.
Mir wurde übel, und ich hatte das Gefühl, keinen einzigen Augenblick mehr in dem engen Laden zubringen zu können, ohne entweder laut schreien oder ersticken zu müssen.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte ich schnell und vermied, einen Blick auf den Zeitschriftenstand zu werfen, wo es sicher große Schlagzeilen über die grauenhaften Vorfälle zu lesen gab. Dann stürmte ich hinaus.
Beim steilen Rückweg kam ich ganz außer Atem. Die Schlaufen der Plastiktüten schnitten mir in die Finger. Dennoch verlangsamte ich meinen Schritt nicht, sondern war froh, dass ich auf diese Weise den düsteren Gedanken davonlaufen konnte.
Als ich bei der Villa ankam, stellte ich die Tüten ab und schöpfte Atem. Der Schmerz in meiner Brust ließ etwas nach. Erst nach einer Weile war ich soweit, dass ich die Tür aufschließen und über die Schwelle treten konnte. Und dann hörte ich es – es traf mich wie ein Schlag, und ich ließ die Tüten fallen.
Die Cornflakespackung rutschte heraus, Äpfel rollten mir vor die Füße. Die Eier, von denen ich nicht einmal mehr wusste, dass ich sie gekauft hatte, zerbrachen. Gelber Dotter troff sämig auf die hellen Fliesen.
Ich lauschte fassungslos.
Nein, jene Klänge, die mich so entsetzten, waren keine Einbildung. Ich stürzte so schnell auf das Wohnzimmer zu, dass ich auf den zerbrochenen Eiern ausrutschte. Schmerzhaft krachte ich auf den Boden.
Die Musik war immer noch zu hören.
»Nein!«, schrie ich. »Nein!«
Ich erkannte meine Stimme nicht mehr. Sie klang so tief und röhrend.
Was mir da entgegenschallte, war Sergej Rachmaninow. Die Sonate in g-Moll für Klavier und Cello. Jenes wunderschöne Thema aus dem zweiten Satz, dem Allegro scherzando – eine ungemein melodisch klingende Stelle nach sehr wirren, hektischen ersten Takten.
Das Klavier fehlte, dessen Töne musste ich mir dazudenken, aber die Cellomusik hielt an. Jeder einzelne Ton tat so weh, als würde der Bogen nicht über Saiten streichen, sondern über meine nackte Seele und dort tiefe, blutende Wunden hinterlassen.
Ich rappelte mich auf, die Eierschalen klebten an meinen Händen.
Seit Jahren hatte ich diese Musik nicht mehr gehört, und jetzt beschworen diese Töne eine ganze Welt herauf. Bilder tauchten vor mir auf, die ich tief in mir vergraben hatte – ich sah, wie ich durch die Gänge des Mozarteums ging, wie ich
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