Der Kuss des Morgenlichts
ich nicht mehr sein wollte: ein junges Mädchen, unsicher, verloren, ganz allein mit seiner Schwangerschaft, irgendwie auch ganz allein auf einer Welt, in der alles, was bis dahin von Bedeutung war, plötzlich keinen Wert mehr hatte.
»Nein, es gibt keine Erklärung!«, schrie ich. »Wie kannst du es wagen, hier aufzutauchen?« Dass ich unangemeldet bei Cara aufgetaucht war, nicht er bei mir – daran dachte ich nicht. »Du … du … du bist einfach gegangen! Du wusstest, dass ich dein Kind bekomme, und du hast mich sitzen lassen! Und dieser lächerliche Brief! Hast du überhaupt eine Ahnung, was du mir angetan hast? Einfach verschwunden bist du! Tagelang habe ich auf dich gewartet. Ich bin zu deiner Wohnung gegangen, immer wieder, ich habe nach dir gefragt, dich gesucht … ich habe sogar die Polizei angerufen und alle Krankenhäuser … ich hatte solche Angst, dass dir etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte, dass du … dass du … Ach, du hättest tot sein können! Und vielleicht wäre das sogar besser gewesen, einfacher, dann hätte ich wenigstens gewusst, woran ich bin, und … und … Wie konntest du nur! Ich war gerade mal neunzehn Jahre alt! Ich war kaum mehr als ein Kind und bekam selbst eins, und du … «
Ich hörte nicht zu reden auf, weil mir die Worte ausgingen, sondern weil ich nach Luft ringen musste. Nathan hob seine Augen, und unter seinem Blick verstummte ich. Keine Beleidigung fiel mir mehr ein, kein Vorwurf, kein Schimpfwort, keine Verwünschung. Nur eine Frage: Wie hatte ich überhaupt ohne ihn weiterleben können? Wie es ertragen, ihn verloren zu haben?
»Sophie, wir müssen über Aurora reden.«
Dass er so selbstverständlich ihren Namen in den Mund nahm, brachte den Zorn zurück, doch diesmal kleidete er sich nicht in hitzige Worte. Stattdessen stieg Kälte in mir auf, wohltuende Kälte, die den Schmerz überlagerte, lähmte und betäubte.
»Nein«, sagte ich fast tonlos, »nein, das müssen wir nicht … «
»Sophie, sie … «
»Sie ist nicht dein Kind«, fiel ich ihm ins Wort. »Das heißt, natürlich ist sie das, aber du hast kein Recht auf sie! Du hast dich all die Jahre nicht um sie gekümmert. Du hast mich nicht einmal finanziell unterstützt. Warum tauchst du jetzt auf? Warum ausgerechnet jetzt?«
Eine Ahnung streifte mich … die Erinnerung an Caras Worte … sie hat keine Ahnung … man sollte sie einweihen … die Zeichen sind seltener geworden …
Cara kannte vielleicht den Grund – für Auroras sonderbares Verhalten ebenso wie für die Tatsache, dass Nathan jetzt vor mir stand. Aber ich wollte keine Erklärungen hören, nicht jetzt, ich wollte mich nicht beruhigen und vernünftig werden müssen, wollte vor allem nicht seine Stimme hören, diese rauchige, raunende, melodische Stimme …
»Wag es nicht, Aurora nahe zu kommen, wag es nicht!«, stieß ich keuchend hervor. »Du hast nicht das Geringste mit ihr zu schaffen. Und ich will dich auch nicht sehen, Nathan, nie wieder! Du bist damals ohne Erklärung gegangen. Jetzt hast du in meinem Leben nichts mehr verloren.«
Seine Augen nahmen einen fast flehentlichen Ausdruck an, doch als er zu reden ansetzte, schien Cara ihm ein Zeichen zu geben, denn plötzlich verstummte er.
Ich ertrug seinen Anblick keinen Moment länger, ertrug auch meine Verbitterung nicht und noch weniger die Sehnsucht, die diese Verbitterung nicht ausmerzen konnte – die Sehnsucht bei ihm zu sein, in seine Augen zu blicken, ihn zu küssen und zu umarmen, mit ihm Musik zu machen, diese magische, göttliche Musik.
Mit wackeligen Knien ging ich zur Tür, drängte mich an Cara vorbei und durchquerte den Flur. Als ich endlich im Freien stand, blieb ich kurz stehen, erwartete fast, seine Stimme zu hören, wie sie mir nachrief, dass ich bleiben solle. Doch es war still, keiner der beiden wagte es, mich aufzuhalten. Die Strecke bis zum Auto schien mir endlos lang; jeder einzelne Schritt geriet zum Kraftakt. Wie leergepumpt fühlte ich mich, als ich endlich die Tür aufmachte.
Aurora schien sich die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt zu haben. Sie starrte mich fragend an, aber sagte nichts. Die Luft war dumpf, heiß und stickig, doch das schien ihr nichts auszumachen.
Als ich das Auto startete, fragte sie lediglich leise: »Fahren wir wieder nach Hause?«
Ich nickte. »Ja«, murmelte ich, obwohl ich plötzlich nicht begreifen konnte, wie ich in einer Welt ohne Nathan je einen Ort als Zuhause empfinden konnte. »Ja, das tun wir.«
Aurora
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