Der Kuss des Morgenlichts
Nathan an der Seite von Matthias Steiner zum ersten Mal sah, und wie wir uns in der Mensa wieder begegneten. Ich erinnerte mich an die Schlaflosigkeit, die Glücksgefühle, die Unruhe, die Verwirrung, an die Höhenflüge am Klavier, an den ersten Kuss im Morgenlicht, an die einzige Nacht in Nathans Armen. Und ich spürte wieder die abgrundtiefe Verzweiflung und Leere, die folgte, als er einfach verschwand, und die erst nach Auroras Geburt erträglich wurden.
»Nein!«, schrie ich wieder.
Das Entsetzen, aber auch die Trauer, die mir die Kehle zuschnürte, wandelten sich in Wut. Wie konnte er nur! Ich hatte Nathan doch ausdrücklich gesagt, dass ich nichts mit ihm zu tun haben wollte und dass er mir nie wieder unter die Augen kommen sollte! Und nun kam er einfach hierher, setzte sich in mein Wohnzimmer und spielte Cello?
Rasend vor Wut stürmte ich aufs Wohnzimmer zu. Ich merkte kaum, dass Cara mir entgegentrat und beschwichtigend die Hände hob. Wahrscheinlich wollte sie mich auf den Anblick vorbereiten, der sich mir im nächsten Moment bieten würde – als hätte es irgendwelche einfühlsamen Worte gegeben, die das Entsetzen hätten lindern können.
Ich erstarrte.
Es war nicht Nathan, der dort saß und meisterhaft Cello spielte. Es war Aurora.
Die Cellomusik verstummte – vielleicht, weil Aurora zu spielen aufhörte, vielleicht, weil das Rauschen in meinem Kopf alles übertönte. Ich hielt mich am Türrahmen fest.
Ein Traum, es war alles nur ein Traum … oder besser: eine Halluzination. So war es. So musste es sein. Ich bildete mir das Ganze ein. Wahrscheinlich war ich krank. Seit nunmehr Wochen hörte und sah ich Dinge, die es nicht gab.
Aber die Eierschalen, die an meinen Händen klebten, waren real. Die Villa, in deren Wohnzimmer ich stand, auch. Und ebenso Aurora, die dort mit dem Cello zwischen den Beinen saß, kaum groß genug, das Instrument richtig zu halten. Ja, sie spielte Cello – nicht etwa wie ein Anfänger, der den Saiten für die Ohren schmerzhaftes, krächzendes Gejaule entlockt, sondern genauso vollkommen wie Nathan. Da war kein einziger Fehlgriff, kein Misston, und inmitten meines Schocks stieg etwas anderes in mir hoch: das Verlangen nach einem Klavier, um aus der Hälfte ein Ganzes zu machen. Ich hatte in den letzten Jahren das Instrument, für das ich einst gelebt hatte, kaum vermisst oder hatte es mir vielmehr verboten, es zu vermissen, doch jetzt sah ich die Noten vor mir und mir fiel der Fingersatz wieder ein. Ja, jetzt kamen Des, As, F, As, Des, Es, F …
»Nein!«, rief ich wieder, diesmal nicht ganz so dunkel und röhrend wie vorhin.
Aurora ließ den Bogen sinken. Sie blickte auf, als hätte ich sie aus einem Traum gerissen. Zuerst war der Blick ihrer blauen Augen abwesend, dann wurde er schuldbewusst.
Cara trat zu mir, wollte etwas sagen, doch ehe sie das erste Wort hervorbrachte, flüsterte ich: »Woher hat sie das Cello?«
Erst als die Worte ausgesprochen waren, ging mir auf, wie lächerlich sie klangen. Die viel brennendere Frage war doch: Warum konnte sie ebenso meisterhaft Cello spielen wie ihr Vater?
Aber diese ungeheuerliche Tatsache konnte ich unmöglich in Worte fassen.
»Es ist Nathans Cello«, stellte ich fest, ehe Cara antworten konnte.
»Sophie, du musst mir glauben, er wollte das nicht. Es war allein meine Idee. Ich habe hinter seinem Rücken … «
Sie hat keine Ahnung.
Man sollte sie einweihen.
Die Zeichen sind seltener geworden, weil ich bei ihr bin.
Ich hatte das Gefühl, dass sich der Raum vor mir langsam zu drehen begann, aber ich gab ihm nicht nach. »Nicht hysterisch werden!«, sagte ich mir eindringlich. Nicht durchdrehen!
Ich drängte mich an Cara vorbei. Wortlos ging ich zu Aurora, nahm ihr das Cello aus der Hand und verstaute es in dem Kasten – grob und ohne darauf zu achten, ob ich es beschädigte. Ich wusste, dass Musiker es hassten, wenn Laien mit ihrem kostbarsten Schatz umgingen wie mit einem Staubsauger, aber in diesem Augenblick hätte ich am liebsten sämtliche Saiten zerrissen.
»Sophie«, setzte Cara wieder an. Sie war zu Aurora getreten und strich ihr beruhigend über den Kopf, »Es ist Zeit, dass du … «
»Du bleibst hier«, unterbrach ich sie mit tonloser Stimme.
Ich nahm den Cellokasten und lief hinaus. Im Flur lagen immer noch die Einkäufe auf dem Boden. Ich wischte mir die klebrigen Finger an meiner Jacke ab.
Unsanft warf ich das Cello auf den Rücksitz meines Autos, insgeheim befriedigt über das klagend-klirrende
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