Der Kuss des Satyrs
sie, dass Nick ihr keine Nachricht hinterlassen hatte, wohin er gegangen war oder was sie seiner Meinung nach während seiner Abwesenheit tun sollte.
»Kann ich Euch irgendetwas aus der Küche bringen lassen, Signora?«, erkundigte sich Signore Faunus.
»Ja, bitte. Etwas zum Mittagessen«, entschied sie sich plötzlich. »Ich werde ein wenig spazierengehen.«
Er schnippte mit dem Finger nach einer der Mägde. Sie trat vor. »Ich lasse Euch in guten Händen.« Wieder verneigte er sich und ging.
»Ein Picknick?«, fragte die Magd, als er weg war.
Jane nickte. »Nichts Besonderes. Nur ein bisschen Käse, Brot und Obst.«
»Ja, ja, ich werde mich darum kümmern«, sagte die Magd und eilte davon, die Dinge zusammenzupacken.
Während sie wartete, musterte Jane die Küche. Einen Haushalt zu führen war nicht gerade ihre Stärke, aber sie nahm an, dass sie sich daran gewöhnen würde, wenn sie erst einmal damit anfing. Den heutigen Tag wollte sie jedoch damit verbringen, sich einzuleben, ohne bereits irgendwelche Pflichten zu übernehmen. Sie würde in den kommenden Wochen genügend Zeit haben, um herauszufinden, wie sie die Tage am besten verbrachte, während sie sich in ihre neue Rolle einfand.
Unter einem langen Bord voller Kupfertöpfe entdeckte sie ein Brett an der Wand, auf dem kleine, runde, schwarze Metallschildchen angebracht waren. Sie trat näher heran und erkannte, dass jedes Schildchen mit einer Nummer versehen war. Es gab viele Nischen, aber nur sechs davon enthielten zurzeit ein Schildchen. Wofür waren die gut?
»Euer Mittagessen, Signora«, sagte die Magd. Als sie sich bedankte, bemerkte Jane, dass sie ein ebensolches Schild an der Schürze trug. Aber die Magd knickste und war davongeeilt, bevor sie sie dazu befragen konnte.
Jane verließ das Haus durch die Küchentür und war erstaunt, sich in einem wahren Paradies wiederzufinden. Der Garten und auch die Brunnen hier waren vor langer Zeit ohne Zweifel von einem sehr gewissenhaften Landschaftsgärtner entworfen worden.
Ein phantastisches Mosaik von gut zwölf Metern Durchmesser umgab den Fuß eines plätschernden Springbrunnens und bildete einen großen Innenhof. In der Mitte des Brunnens stand ein schelmisch dreinschauender Pan und spielte seine Flöte in friedvoller Einsamkeit. Sie umschritt das Mosaik und erkannte, dass es die mythische Geschichte des Hauses Satyr erzählte. Schiffe, Krieger und phantastisches Getier fanden sich in einem umlaufenden Fries zwischen den Pflastersteinen.
Einige Pfade führten aus dem Mosaik heraus und schlängelten sich ins Grüne, das hier und da von Statuen unterbrochen wurde. Sie wählte einen Pfad, der von Zitronenbäumchen in Terracottakübeln gesäumt und von mächtigen Eichen beschattet wurde.
Ihr Entdeckergeist war geweckt, irgendwann verließ sie den Pfad und bahnte sich einen Weg über hügelige Wildblumenteppiche. Fasane stolzierten mit ruckartigen Bewegungen über die Wiese, und sogar Gazellen sprangen umher. Ein schillernder blaugrüner Pfau schlug sein Rad und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Nach einer Weile drehte sie sich um und betrachtete das unter ihr liegende Kastell. Wie sehr sich doch seine Rückseite von der Front unterschied! Von der Straße aus hatte es ausgesehen wie eine uneinnehmbare Festung, aber von hier aus betrachtet war alles sehr lieblich. Es war, als habe das Kastell zwei verschiedene Gesichter – ein abweisendes und ein einladendes.
Obgleich sie gar nicht vorgehabt hatte, heute schon so weit zu gehen, verspürte sie den Drang, ihren Weg fortzusetzen. Sie ließ die Schnitthecken hinter sich und trat unter das Blätterdach des dichten Waldes. Über ihrem Kopf schlugen Papageien, Eichelhäher und Saatkrähen wild mit den Flügeln und krächzten laut.
Suchend betrachtete sie den Waldboden. Hier und da entdeckte sie Flecken von Mistel, Brombeeren, Roter Betonie, Chicorée, Fenchel, Rosmarin und Safran, alles Pflanzen mit magischen Kräften. Aber keinen Goldlauch.
Nach einer Weile ließ sie sich auf einen großen, flachen Stein nieder und machte Picknick. Zu ihren Füßen entdeckte sie eine Pflanze, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hockte sich hin, um sie sich genauer anzusehen. Das Pflänzchen war noch etwas mitgenommen von der Unbill des Winters. Jane strich mit den Fingerspitzen darüber, verschmolz mit ihm und hauchte ihm neues Leben ein. Die Wirkung zeigte sich in einem Umkreis von mehreren Metern: Überall erholten sich die Pflanzen. Erstaunt setzte sie sich
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