Der Kuss des Satyrs
Nachtschicht hier im Kastell, Signora«, antwortete das Mädchen. Ihre Stimme war eintönig, und ihr ganzes Wesen strahlte eine überirdische Ruhe aus.
Jane presste das Buch, das sie aus Nicholas’ Bibliothek mitgenommen hatte, fester an die Brust. Ein Schauer rann ihr über den Rücken. »Ich habe gedacht, das Personal geht bei Sonnenuntergang.«
»Wir kommen, wenn die anderen gehen«, antwortete das Mädchen monoton.
Wir?
»Dann bist du also eine Art Nachtdiener?«
Das Mädchen nickte abwesend.
»Wohnst du hier auf dem Gut oder im Dienstbotenlager?«
»Signora?«, ertönte fragend eine bekannte Stimme.
Jane drehte sich um. Signore Faunus war unbemerkt dazugetreten.
»Braucht Ihr Hilfe?«, fragte er in besorgtem Ton.
»Nein. Das heißt … ich war gerade unterwegs zu meinem Zimmer, als …« Sie warf dem seltsam ruhigen Dienstmädchen einen Blick zu, dann schaute sie zurück zu Signore Faunus. »Ich habe gedacht, das Personal verlässt jeden Abend das Kastell.«
Signore Faunus erbleichte bis in die Spitzen seiner Ohren. »Von wem sprecht Ihr?«
»Na, von diesem Dienstmädchen hier!«
»Ihr könnt sie sehen? Ah!« Er hob sich auf die Zehenspitzen und ließ sich dann wieder auf die Hacken nieder, dabei nickte er vor sich hin. »Eure Abstammung. Das ergibt einen Sinn.« Er entließ das Dienstmädchen, und sie machte sich auf den Weg, wobei sie merkwürdig gleitend verschwand.
Sie beide starrten ihr hinterher.
»Die Nachtschicht nimmt nur von mir Aufträge an«, informierte sie der Diener. »Ich werde jeglichen Eurer Wünsche an sie weitergeben.«
»Ich verstehe«, sagte Jane, dabei verstand sie gar nichts. »Aber –«
Signore Faunus schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich formvollendet vor ihr. »Ihr müsst nach mir läuten, wenn Ihr irgendetwas wünscht. Wir sind alle hier, um zu dienen.« Mit diesen Worten drehte er sich um und eilte mit wehenden Rockschößen davon.
Jane schaute ihm nach, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem Schlafzimmer machte. Sie ging zu Bett, dann kroch sie wieder heraus, schlich zur Tür und schloss ab.
Unter der Erde, im Keller des Kastells, spielte Signore Faunus leise auf seiner Panflöte und lockte damit die Nachtdiener zu sich. Es waren mehr als zwei Dutzend. Ein jeder war ein verwaister Baumgeist, dem im Kastell Unterschlupf gewährt wurde, nachdem sein Lebensbaum gestorben war. Sobald ein Satyr sich derart ihrer angenommen hatte, dienten die Baumgeister ihm und seiner Familie so treu, wie sie zuvor ihrem Lebensbaum in seinem Wald gedient hatten.
»Ihr müsst Euch größere Mühe geben, im Verborgenen zu bleiben«, warnte Faunus die Runde von überirdischen Geschöpfen, die sich um ihn versammelt hatte. »Die Signora sieht, aber sie versteht noch nicht.«
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Kapitel 15
F ünf Nächte nachdem Jane ihre vorübergehende Unpässlichkeit verkündet hatte, spürte Nick, dass ihre Regelblutung vorüber war. Bei Sonnenuntergang öffnete er die Tür, die von seinem Schlafzimmer in ihres führte.
In ihrem Zimmer blieb er abrupt stehen. Er witterte ihren Duft, aber sie war nicht da. Er ärgerte sich darüber, dass sie nicht an dem ihr zugewiesenen Ort war, während er für sie bereit war. Er war früher dran als üblich, aber es war fast eine Woche her. Erwartete sie ihn etwa nicht?
Er wollte sich schon auf die Suche nach ihr begeben, als ihm eine kleine Pfütze vor der Tür zu ihrem Balkon auffiel. Ein Frühlingsgewitter war über die Gegend gekommen, eines von der kurzen, aber heftigen Art. Sie war doch wohl nicht …
Als er durch die Tür blinzelte, konnte er sehen, dass sie es doch getan hatte. Draußen auf dem Balkon stand Jane an die steinerne Brüstung gepresst. Sie trug nur ihr Nachthemd. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht, zerrte an ihrem Haar und ihrem Nachthemd. Mit einer Hand stützte sie sich auf dem Geländer ab, die andere konnte er nicht sehen. Unter seinem Blick hob sie das Gesicht zum Himmel, als wäre sie eine Blume, die nach dem lebensspendenden Nass dürstete.
Ein Teil von ihm bewunderte die sanften Rundungen ihres Gesäßes, die von der nassen Kleidung betont wurden. Der andere wunderte sich über dieses uncharakteristisch unvorsichtige Verhalten seiner sonst so wohlerzogenen, umsichtigen Frau. Er öffnete die Tür und spürte den für die Jahreszeit zu kalten Wind. Hatte sie es nicht bemerkt?
»Kommt, Jane. Ihr werdet sonst noch krank«, rief er ihr leise zu.
Sie zuckte zusammen und drehte sich eilig zu ihm um, als habe er sie bei
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