Der Kuss des Verfemten
glaubte sie einen Pferdefuß zu erkennen!
»Heilige Mutter im Himmel, schütze mich vor diesem Teufelszeug, errette meine arme Seele vor der wilden Gier der Männer. Und lass mich diesen entsetzlichen Anblick vergessen. Ich werde Buße tun und dir tausend Rosenkränze beten und mich ganz der heiligen Schrift widmen und all meine Gedanken nur den geistigen Dingen zuwenden …« Überstürzt haspelte sie all die Versprechen herunter, die sie noch vor Kurzem für undenkbar gehalten hatte, und presste ihr Gesicht in die harte Strohmatratze. Und plötzlich sah sie vor ihrem inneren Auge ein anderes Bild, das Bild eines hochgewachsenen Ritters im Kettenhemd, und spürte den Blick leuchtend blauer Augen, die sie zu hypnotisieren schienen. Und sie fragte sich, ob dieser Ritter wohl unter seinem Kettenhemd ebenso aussah wie der glutäugige Sohn des Wirtes. Ob etwa alle Männer so aussahen …?
*
Die halb verfallene Burg erhob sich dunkel und trotzig in den bleigrauen Himmel. Ihre Mauern waren schwarz und bröckelten an vielen Stellen. Lediglich der Wehrgang über dem Haupttor schien intakt zu sein und ein Turm am Ende des Wehrganges. Kein Gebäude im Inneren der Burg überragte die Mauer, und kein flüchtiger Betrachter würde vermuten, dass diese Burg bewohnt war. Eigentlich bewohnte auch niemand das alte Gemäuer, es war schon vor langer Zeit verlassen worden. Jetzt diente es als Unterschlupf für etwa drei Dutzend verwegen aussehende Männer und Frauen. Das große Tor in der Mauer blieb geschlossen. Auf dem Wehrgang standen zwei Männer.
Einer der beiden hieß Ritter Rudolf von der Kiebitzmark und besaß eine schlanke, hohe Gestalt. Sein schmales Gesicht hatte eine dunklen, glatten Teint, unter dem kastanienbraunen Haar blickten zwei warme, braune Augen besorgt auf den anderen Mann neben ihm.
Dieser andere war Ritter Martin von Treytnar und etwa einen halben Kopf kleiner als Rudolf. Er sah ausgesprochen hübsch aus mit seinem offenen Gesicht und dem langen blonden Haar, das in widerspenstigen Locken auf seine Schultern fiel. Das Auffälligste an ihm waren jedoch seine strahlend blauen Augen, die jedes Mädchenherz höher schlagen ließen. Doch im Augenblick sprühte aus ihnen dunkler Zorn.
Martin hielt die Hände zu Fäusten gepresst und schlug damit auf die Zinnen des Wehrganges. »Wie ich es hasse!«, stöhnte er.
»Ich verstehe dich nur zu gut«, erwiderte Rudolf. Die beiden äußerlich so verschiedenen Männer standen in stiller Vertrautheit nebeneinander. »Aber ich weiß keinen anderen Weg.«
»Wie viele Unglückliche müssen noch daran glauben, bis wir damit einen Kampf gegen Gundram finanzieren können? Das Geld reicht nicht. Was sollen wir mit Stoffen, Frauenkleidern oder Bibeln? Wir brauchen Waffen, Eisen, Geld! Verdammt, Rudolf, langsam zweifle ich daran, dass ich es je schaffen werde!«
»So schnell gibst du auf? Nachdem so viele Getreue ihr Leben für dich gelassen haben? Was hat deinen Sinn verwirrt?«
Martin senkte den Kopf und schwieg.
»Waren es diese beiden Nonnen?«, forschte Rudolf weiter. Martin seufzte.
»Ich weiß es nicht. Es war nicht richtig, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Andererseits, schau dir unsere Leute an!« Er drehte sich um und wies mit der Hand hinunter in den Burghof, wo geschäftiges Treiben herrschte. Begeistert öffneten die Frauen und Männer die Kisten und Körbe und zerrten die Kleider, Stoffe und Lebensmittel heraus. »Wann haben sie das letzte Mal eine richtige Mahlzeit bekommen? Sie freuen sich schon über ein paar armselige Kleider! Damit soll ich meine Burg zurückerobern, mein Lehen besetzen und notfalls noch gegen die Soldaten des Herzogs Krieg führen?«
Rudolf senkte den Kopf. Martin hatte ja recht. Aber konnte er das seinen Leuten sagen, nachdem sie alles für ihn verloren hatten? Ihre ganze Hoffnung ruhte auf Ritter Martin. Rudolf legte seine Hand auf den Arm seines Freundes. »Auch wenn es uns schwerfällt, es auf diese Weise zu tun, es bleibt uns nichts anderes übrig. Oder willst du verhungern und deine Leute dazu? Schau sie dir an! Trotz ihres Elends sind sie fröhlich, wollen leben! Enttäusche sie nicht!«
Martin blickte seinen Freund dankbar an. Sein Blick glitt von ihm ab zu einem hübschen, dunkelhaarigen Mädchen, das ihnen auf dem Wehrgang entgegenkam. Sie trug eines der Kleider aus der Beute des Überfalls.
»Schau, Martin, steht es mir nicht gut?« Sie drehte sich im Kreis und ließ den weinroten Rock des schlichten Kleides schwingen.
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