Der Kuss des Verfemten
wieder zum Fenster hinaus und träumte von einem strahlenden Ritter, der sie auf sein Pferd hob und mit ihr seinem Land hinter dem Horizont entgegenritt.
Viertes Kapitel
Eine helle, glockenklare Stimme erklang, und einige Damen seufzten entzückt auf. Der herrliche Tenor dieser Stimme stieg hinauf zur Decke des Prunksaals, in dem sich viele Gäste versammelt hatten, um dem Wettstreit der Sänger zu lauschen.
»Wem gehört diese Stimme? Ist das eine Frau?«, fragte Isabella verwundert. Sie schritt, begleitet von ihren Damen, durch den Kreuzgang dem Prunksaal zu. Auf Drängen ihres Vaters hatte sie sich überwunden, die Frauengemächer zu verlassen und sich unter die Gäste zu mischen, die ihr untertänig Platz machten, als sie die Halle betrat.
Isabella reckte den Hals, um den Sänger besser erkennen zu können. Es war ein hochgewachsener, schlanker Knabe mit rosigen Wangen und schönen, mädchenhaften Augen.
»Was für eine Stimme!«, flüsterte Mathilda ergriffen. »Aber wieso kann er nur so hoch singen?«
»Weil er ein Kastrat ist«, hörte Isabella eine Stimme hinter sich. Sie wandte sich um und erblickte Gunilla.
»Ein Kastrat? Was ist das?«
»Ein Mann, der keiner mehr ist«, erklärte Gunilla leise. »Ein Wallach, ein Kapaun.«
»Gütiger Himmel!« Isabella wurde blass. »Wie kann man nur so etwas Grausames tun? Bei einem Menschen?«
»Er wird es nicht vermissen«, erwiderte Gunilla. »Er ist berühmt, und die Damen liegen ihm zu Füßen.«
»Aber … aber … wenn er kastriert ist, dann kann er doch nicht … oder?« Isabella war immer noch verwirrt über Gunillas Enthüllung. »Nein, er kann nicht! Man sollte alle Männer kastrieren!«, zischte Gunilla.
Entsetzt fuhr Isabella herum. Sie sah Gunillas Gesicht, das blass wie eine Kalkwand war. Und Gunilla starrte zu Rupert de Cazeville, der mit verschränkten Armen lässig an einer der Säulen lehnte, die den Prunksaal zur Außenseite begrenzten. Seine schwarzen Augen durchbohrten sie wie Pfeile, dann blickte er auf Isabella und verzog seine Lippen zu einem anzüglichen Grinsen. Welche Teufelei geht in ihm vor?, ängstigte sich Gunilla.
Sie warf einen prüfenden Blick auf Isabella, die vom Gesang des Kastraten gefesselt war und andächtig lauschte. Schnell huschte sie hinaus auf den Gang und eilte den Frauengemächern zu. Es war eine günstige Gelegenheit, die kleine Truhe zu suchen. Sie musste diesen unheimlichen Mann loswerden!
Unter dem Beifall der Zuhörer beendete der Sänger seinen Beitrag und bedankte sich für die Blumen und kleinen Spitzentüchlein, die ihm die Damen zuwarfen.
Der zauberhafte Gesang hatte viele Zuhörer angelockt, und die Menschen wogten in dem Saal, der aus allen Nähten zu platzen schien.
»Es sind so viele Menschen hier«, klagte Isabella und fächelte sich Luft zu. »Ich ertrage das nicht.«
»Gehen wir hinaus in die Weinlaube«, schlug Margarete vor. »Aber dann können wir doch die Sänger nicht hören!«, bedauerte Sieglinde.
Isabella wollte sich gerade abwenden, als sie für den Bruchteil eines Augenblicks in zwei strahlend blaue Augen blickte. Sie stockte wie vom Blitz getroffen und packte Mathildas Hand. »Hast du diesen Sänger gesehen?«, fragte sie atemlos.
»Ich sehe viele Sänger, zu viele«, erwiderte Mathilda. »Welchen meint Ihr?«
»Diesen dort in der blau und weiß gestreiften Tunika. Der mit den langen, blonden Locken.« Sie wies mit der ausgestreckten Hand auf einen Mann, der ihnen den Rücken zuwandte. Mathilda drückte erschrocken Isabellas Arm herunter. »Ihr dürft nicht zeigen, dass Ihr an einem der Barden Interesse bekundet«, zischte sie. »Haltet Euch an die Sitten!«
»Ich muss ihm in die Augen sehen! Mein Gott, Mathilda, diese Augen! Sie sind so blau wie die des fremden Ritters, sie glitzern wie die edlen Steine, die die Händler aus den Fernen des Ostens bringen. Er ist es, er muss es sein!«
»Hoheit, Ihr irrt Euch bestimmt«, widersprach Mathilda. »Das war ein Räuber, ein Wegelagerer. Dieser hier ist ein Ritter im Minnedienst. Es gibt viele Männer mit blauen Augen.«
Isabella presste ihre Hände auf ihre Brust. »Ich fühle mein Herz heftig schlagen«, hauchte sie. »Dieser Ritter ist mein Erwählter.«
Mathilda runzelte ärgerlich die Stirn. »Euer Zukünftiger wird durch das Turnier entschieden.«
»Dann wird er das Turnier gewinnen. Ich weiß es, ich fühle es in meinem Herzen.«
»Wie kann ich Euch nur zur Vernunft bringen, Isabella«, klagte Mathilda. »Ihr solltet
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