Der Kuss des Werwolfs - 1
einfach zu heiß, um eine Rede ans Volk zu richten. Nola brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie einen Platz gefunden hatte, der groß genug war, ihr Badelaken auszubreiten und daneben ihre Tasche und Schuhe abzustellen. Neben ihr lag eine Mutter mit Kleinkind, und nach kurzer Zeit wurde ihr klar, warum der Platz frei gewesen war: Die Mutter redete ohne Pause in Babysprache, und Nola musste sich drei Mal als Tante betiteln lassen, bevor sie sich häuslich eingerichtet hatte. Sie drückte sich die Stöpsel ihres MP3-Players in die Ohren und drehte sich um, damit sie die beiden nicht mehr sah. Robbie Williams blendete das Geplapper aus.
Nola schlug die Zeitung auf, las als Erstes die Wettervorhersage -kein Ende der Hitze in Sicht - und die Nachrichten aus aller Welt. Danach begann sie auf Seite eins, ließ den Wirtschaftsteil aus und wandte sich der Londonseite zu. »Werwölfe in London?« lautete die Überschrift. War ein Reporter von »Daily 16« zur »Times« gewechselt? Warum verfolgten diese Bestien sie plötzlich? Im Nachtclub »Fox in the Night« waren gestern Nacht angeblich Werwölfe aufgetaucht und hatten eine Massenpanik ausgelöst. Mehrere Dutzend Gäste waren verletzt worden, und noch mehr schworen heilige Eide, sie hätten gesehen, wie sich vor ihren Augen Menschen in Wölfe verwandelt hätten. Die Opfer wurden psychologisch betreut, die Polizei hatte bisher jedoch keine Hinweise für die Existenz der Bestien gefunden.
Nola kramte ihr Mobiltelefon heraus. Das »Fox in the Night« war einer der Clubs, die Violet häufiger besuchte. Sie rief die Freundin an und atmete erleichtert auf, als die sich an ihrem Arbeitsplatz in der Redaktion meldete.
»Mir geht es gut«, sprudelte Vi heraus. »Mensch, da ist einmal was los im >Fox in the Night< und ich bin nicht da. Stell dir mal vor, was das für ein fantastischer Artikel geworden wäre, aus erster Hand!«
»Sei lieber froh, dass du einmal nicht mittendrin warst. Eine Massenpanik ist kein Zuckerschlecken.« Nola wusste, dass sie sich altklug anhörte. Doch als Angestellte des Savoy musste sie regelmäßig Schulungen über richtiges Verhalten im Brandfall und bei anderen Katastrophen über sich ergehen lassen.
»Ich passe auf mich auf«, versprach Violet. »Aber du, du musst dir von diesen Tworekis helfen lassen, jetzt wo die Existenz der Werwölfe quasi amtlich ist. Am Ende entführt dich so eine Bestie.«
»Amtlich - nur weil es in allen Käseblättern steht?«
»Welche Zeitung hast du gelesen?«
»Die >Times<.«
»Ach, das Käseblatt«, spottete Violet. »Im Ernst, Süße, wir müssen der Sache auf den Grund gehen.«
»Ich muss gar nichts. Ich habe das ganze Werwolfgerede satt. Das nimmt doch immer verrücktere Ausmaße an.«
Nach dem Telefongespräch stellte Nola fest, dass der Akku ihres MP3-Players leer und sie wieder dem Babygeplapper ihrer Nachbarin ausgesetzt war. Sie packte ihre Sachen zusammen, um sich einen anderen Platz zu suchen.
Jetzt war Speakers’ Corner nicht mehr verwaist, ein Mann hatte die kleine Rednertribüne erklommen und wandte sich an ein ständig größer werdendes Publikum. An einem fahrbaren Stand kaufte Nola sich ein Eis. Sie wollte den Redner eigentlich links liegen lassen, doch dann hörte sie, wie er »Werwolf« sagte und mischte sich unter die Zuhörer. Den Sinn der Rede zu erfassen, war nicht schwer, der Mann wiederholte ihn ein ums andere Mal in wechselnden Formulierungen: Die Bewohner Londons dürften nicht tatenlos zusehen, wenn sich Werwölfe in der Stadt ausbreiteten. Sie müssten sich organisieren und bewaffnen, nur Silber töte die Bestien. Er habe den ersten Anti-Werwolf-Club gegründet und rufe alle mutigen Männer und Frauen auf, beizutreten. An dieser Stelle zog er eine Liste aus seinem Rucksack; aus dem Publikum reckten sich ihm Hände entgegen. Auch der Mann neben Nola drängte sich nach vorn.
Sie leckte gerade den Rest ihres Eises auf, als sie sich auf einmal beobachtet fühlte. Vorsichtig schaute sie sich um, entdeckte in der beträchtlich angewachsenen Menschenmenge aber kein bekanntes Gesicht, und niemand schaute sie an oder schnell zur Seite. Das Gefühl eines auf ihren Nacken gerichteten Augenpaars blieb dennoch. Ein zweites Mal musterte sie die Büsche und die Leute, von denen sich immer mehr auf der Liste des Demagogen eintrugen. Sie entfernte sich aus der Menge, umrundete sie und die Büsche; auf der anderen Seite stand eine Schlange an einem Kiosk nach Eis und Süßigkeiten an. Aus dem
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