Der Kuss des Werwolfs - 1
Augenwinkel nahm Nola eine Bewegung wahr, als wäre jemand hinter einem Baum verschwunden. Doch als sie hinsah, war da nichts.
Die Lust an ihrem Ausflug in den Hyde Park war ihr gründlich vergangen. Sie zog ihr Kleid und die Sandalen an und machte sich auf den Heimweg. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie nicht los. Immer wieder schaute sie sich um, entdeckte jedoch niemand.
Die U-Bahn brachte sie zurück nach Camden. Nola schlenderte über den Camden Lock Market, kaufte sich Hühnchen in Mangosauce, das sie am Abend in der Mikrowelle aufwärmen wollte, und machte sich dann auf den schattigen Straßenseiten auf den Heimweg.
Als sie an den beiden Wohnungstüren im ersten Stock des Hauses vorbeikam, öffnete sich eine davon und ihre Nachbarin, die alte Ms. Murphy, steckte den Kopf heraus.
»Wie gut, dass Sie endlich da sind, junge Miss.« Sie nannte Nola nie anders als »junge Miss«.
»Ist was passiert?«
»Ich weiß nicht, vielleicht mache ich mir nur zu viele Sorgen.« Sie zögerte.
»Bestimmt nicht, Ms. Murphy.«
»Heute sind zwei junge Herren ums Haus geschlichen, die ich im Viertel noch nie gesehen habe.«
»Was haben sie denn genau gemacht?«
Camden war ein buntes Viertel, das viele Besucher und schräge Vögel aller Couleur anzog. Fremde waren nichts Ungewöhnliches, aber trotzdem war es besser, vorsichtig zu sein.
»Sie sind auf der anderen Straßenseite hin und her gegangen. Außerdem sind sie an unserer Haustür gewesen und haben die Namen auf den Klingelschildern gelesen.«
Ms. Murphy hatte eine große Leidenschaft, und das waren die Geschichten über Sherlock Holmes und Dr. Watson.
»Haben sie noch mehr gemacht?«
»Ich weiß nicht. Bei mir haben sie nicht geklingelt, woanders vielleicht. Erwarten Sie Besuch, junge Miss?«
Nola schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich hat das gar nichts zu bedeuten. Vielleicht waren sie von der Hausverwaltung oder so.«
Nola verabschiedete sich und stieg die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung. Sie wollte den Schlüssel gerade ins Schloss stecken, als sie ein komisches Gefühl überkam. Sie zog die Hand wieder zurück. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, und sie hatte das Gefühl, als ob es um etliche Grad kälter geworden wäre. Sie hatte die untrügliche Ahnung, dass etwas in ihrer Wohnung ganz und gar nicht war, wie es sein sollte. Eben hatte sie Ms. Murphy noch innerlich belächelt, aber jetzt nicht mehr. Sie presste das Ohr gegen die Tür. Es war nichts zu hören, die Beklemmung ließ sie jedoch nicht los. Ms. Murphy hatte anscheinend auf sie abgefärbt. Entschlossen steckte Nola den Schlüssel ins Schloss.
In ihrer Wohnung sah auf den ersten Blick alles aus, wie sie es am Morgen zurückgelassen hatte. Ihre Schuhe standen im Regal, an der Garderobe hingen ein Mantel und eine leichte Jacke, die sie beide seit Wochen nicht getragen hatte. Der Spiegel gegenüber lieferte ihr einen Einblick durch die geöffnete Küchentür. Auch dort schien alles auf dem rechten Fleck zu stehen.
Auf Zehenspitzen schlich sie durch die Wohnung, schaute in alle Zimmer. Niemand war da. Offenbar hatte sie sich wirklich nur von Ms. Murphy anstecken lassen.
Erleichtert stellte sie ihre Tasche in der Küche ab, packte das Essen und die Wasserflasche aus, trug die Sonnenmilch ins Bad. Dort stutzte sie zum ersten Mal. Ihr Badelaken hing am Haken, aber sie war sich eigentlich sicher, es über die Duschwand gehängt zu haben. Konnte sie sich so täuschen? Lag das an der Hitze?
Sie öffnete alle Fenster der Wohnung und zog die Vorhänge zu. Ein Schwall warmer Luft kam herein. Nola betrachtete die Wohnzimmereinrichtung, suchte nach weiteren Beweisen dafür, dass jemand hier gewesen war - und fand sie. Auf dem Bücherregal lag normalerweise immer der letzte Brief, den ihr ihre Großmutter vor ihrem Tod geschrieben hatte, doch jetzt war er nicht mehr dort. Sie wurde hektisch, tastete über die Buchreihen, als könnte sie so etwas finden, was die Augen nicht sahen. Dann dehnte sie ihre Suche aufs ganze Wohnzimmer aus, durchwühlte das Körbchen, das neben dem Fernseher stand und ihn dem sie
Ansichtskarten, Einladungen und Grußkarten aufbewahrte. Da war der Brief, ganz unten. Noch nie hatte Nola ihn dort hineingelegt. Die beiden Männer, die Ms. Murphy gesehen hatte, kamen ihr wieder in den Sinn. Waren sie in ihrer Wohnung gewesen? Je länger sie sich umschaute, desto mehr Kleinigkeiten fielen ihr auf: Kissen, die zu ordentlich lagen, in der Küche ein Wasserglas, das auf der
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