Der Kuss des Werwolfs - 1
an seinem Halstuch.
Rhodry beendete den Kuss. »Es ist wegen des Wassers.«
»Was?« Sie war verblüfft.
»Werwölfe vertragen kein Wasser. Es zieht uns in seine Tiefe hinunter und tötet uns. Eine unserer Schwächen neben Silber.«
Er lächelte schief auf sie herunter, und mit einem Mal wurde Nola klar, was der harmlose Strandspaziergang für ihn bedeutet haben musste, warum er ihr nicht zum Wasser gefolgt war und so besorgt geklungen hatte, als sie sich versteckt hatte. Für ihn war das alles wesentlich schlimmer gewesen als für sie. Und … ja, ihr starker Werwolf war nicht unbesiegbar. Das machte ihn menschlicher - liebenswerter.
»Du wäschst dich nicht? Du trinkst nie ein Glas Wasser?«
»So schlimm ist es nicht mit uns. Ich kann natürlich Wasser trinken, auch wenn ich keinen Grund weiß, warum ich es tun sollte.« Er hatte seine Arroganz wiedergefunden. »Wir waschen uns auch. Seen, Flüsse, Bäche und das Meer sind gefährliches Wasser für uns, tief und unergründlich. Wir können solche Gewässer nicht passieren.«
Das verblüffte Nola nun. »Aber England ist eine Insel.«
»Auf einem Schiff können wir Wasser schon überqueren, und wir können auch eine Brücke benutzen, obwohl das nicht gerade angenehm ist. Das tiefe Wasser will uns zu sich ziehen. Das ist der Preis, den wir für unser Wesen als Gestaltwandler zahlen müssen. Findest du ihn hoch?«
»Ich weiß nicht.« Im Urlaub nicht mehr am Strand in der Sonne liegen und Abkühlung im Meer suchen zu können, das war eine schreckliche Vorstellung. Für eine vornehme Lady zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ein Strandurlaub jedoch vermutlich ohnehin nicht angebracht, sie bezweifelte deshalb, ob Rhodry sie verstehen würde.
Ludmilla trug Hosen und Stiefel, Hemd, Weste und Jacke. Sie sah aus, als hätte sie den Kleiderschrank eines Mannes geplündert, allerdings wallte ihr rotblondes Haar offen über ihren Rücken. An einer Hand baumelte ein verschnürtes Bündel.
Sie öffnete leise die Tür des Privatsalons, hinter dem Antonia Derenska seit den frühen Morgenstunden saß und aus dem Fenster schaute. Beide hatten zum Frühstück und zum Lunch eine große Portion Schinkenbraten verdrückt, jedoch kaum ein Wort gewechselt. Die Schweigsamkeit der Freundin war Ludmilla irgendwann zu viel geworden, deshalb hatte sie sich in den gemeinsamen Schlafraum zurückgezogen. Jetzt glaubte sie, ein Mittel gegen die schlechte Laune ihrer Freundin gefunden zu haben.
Antonia fuhr herum, als die Tür auf ging. Die Wut in ihren Augen verflog, als sie die Freundin erkannte, freundlich wurde ihre Miene dennoch nicht.
»Was willst du?«
»Mit dir zusammen einen Spaziergang unternehmen, damit du nicht den ganzen Tag hier hockst und immer trübsinniger wirst.«
Die junge Werwölfin hatte ja recht. Antonia erhob sich deshalb und ließ sich in einen Mantel helfen. Dabei fiel ihr Ludmillas Kleidung auf.
»Warum bist du gekleidet wie eine Landstreicherin?«
»Du weißt, dass ich mir nicht viel aus Röcken und so mache.«
Vor dem »Fat Cat Inn« wählte Ludmilla einen schmalen Fußweg, der sie vom nahen Dorf fortführte. Sie schlug ein flottes Tempo an und verlangsamte es auch nicht oder machte Anstalten umzukehren, als es immer später wurde.
»Wohin führt dieser Spaziergang?«, verlangte Antonia schließlich zu wissen.
»Nach Shavick Castle.«
Die dunkelhaarige Polin blieb stehen. »Das meinst du nicht im Ernst.«
Die andere kümmerte sich nicht um diesen Einwand, sondern ging einfach weiter. Was sie vorhatte, war Wahnsinn. Nicht wegen der Entfernung, denn Werwölfe waren daran gewöhnt, weite Strecken zurückzulegen, sondern wegen des offenen Ungehorsams.
»Maksym hat uns befohlen, hierzubleiben«, rief sie Ludmilla hinterher.
Die drehte sich nun doch um. »Das ist nur seinem männlichen Stolz entsprungen. Gegen die Schotten werden wir jeden Wolf und jede Wölfin brauchen. Ich bin eine Kämpferin des Rudels und du auch, also sollten wir da sein, wo gekämpft wird. Hast du noch nie getan, was du wolltest, statt nur die Befehle deines Seelenpartners zu befolgen?«
»Und du?«
»Ständig.«
Antonia überlegte. Sie umschmeichelte Maksym, überredete ihn mit spielerischen Drohungen oder Sex, bis er ihrer Meinung war; einem direkten Befehl hatte sie sich noch nie widersetzt. Wenn Ludmilla ständig die Wünsche ihres Seelenpartners Milan überging, war es kein Wunder, dass er lieber in Ausbildungslagern junge Werwölfe trainierte, statt bei ihr zu sein, und dass
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