Der Kuss des Werwolfs - 1
gähnte dahinter.
Das über den wässrigen Tee hatte Nola heute doch schon mal gehört. Sie prostete Moira mit ihrer Tasse zu.
»Alkohol wirkt auf uns nicht so stark wie bei Menschen. Wir müssten schon ein Fässchen austrinken, bevor wir unter dem Tisch liegen.«
»Das hätte ich wissen müssen.«
»Rhodry hätte es Ihnen sagen sollen. Aber so ist er, bekommt den Mund nicht auf. Er kann einen manchmal erschrecken, ich weiß das, und mir ergeht es hin und wieder auch so. Sie müssen immer daran denken, dass Sie sich nie vor ihm ängstigen müssen.«
»Das hat mir Brandon Hatherley gestern Nacht auch schon gesagt, dass man sich vor Rhodry leicht ängstigen kann. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
»Unser guter Brandon hat einen Hang zur Übertreibung.«
»Er macht mir mehr Angst als Rhodry.«
»Vor Brandon sollten nur seine Feinde Angst haben. Er ist einer der besten Kämpfer des Rudels, aber wir alle legen unsere Hand für ihn ins Feuer.« Moira hatte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl gesetzt und leerte ihre Teetasse mit zwei Schlucken. Sie stellte sie auf einem mit Zeichenutensilien übersäten Tisch ab. »Ich weiß, was wir tun, ich zeige Ihnen die Bibliothek.«
»Ich kenne sie schon.«
»Oh, oh. Hat Rhodry sie Ihnen gezeigt?«
Nola schüttelte den Kopf, blies auf ihren Tee und nahm einen weiteren Schluck. »Ich habe sie bei meiner Erkundung der Burg entdeckt.«
»Die meinte ich nicht.« Moira legte die Hände um ihre auf einem wackeligen Stapel Zeichenpapier stehende Tasse.
»Gibt es noch eine?«
»Die Bibliothek, die Sie entdeckt haben, dient menschlichen Interessen und ist nur Tarnung. Es gibt noch eine Zweite, die enthält das spezielle Wissen unserer Rasse. Da Sie bald eine von uns sein werden, kann ich sie Ihnen ruhig zeigen. Kommen Sie.«
Gemeinsam verließen sie das Lehrerzimmer, gingen in den ersten Stock hinunter. Nolas Gedanken vibrierten vor Neugier. Was würde sie gleich zu sehen bekommen?
Moira führte sie zurück in die Bibliothek, den Bücherschränken schenkte sie keinen Blick. Schnurstracks ging sie auf die hintere Wand zu, wo neben dem Kamin die einzige Stelle war, an der kein Schrank stand. Nola zwängte sich um den Schreibtisch herum an Moiras Seite.
»Hier ist ein kleiner Hebel.« Die Werwölfin nahm Nolas Hand und führte sie zu einer Stelle des geschnitzten Wandpaneels, legte ihre Finger um einen Vorsprung. »Nach oben drücken.«
Mit einem Knirschen schwang das Wandpaneel zurück, gab den Blick auf einen weiteren Raum frei. Auf den ersten Blick unterschied er sich nicht von der Bibliothek. Es gab Sessel, Sofas, mehrere Tischchen und an den Wänden Bücherschränke. Auf jedem Tisch standen Kerzenleuchter.
Dennoch war der Raum heller, auf dem Boden lag ein blauweißer Aubusson-Teppich, auf die Wände war eine cremefarbene Tapete gespannt, die Möbel waren aus weißlackiertem Holz. Im Laufe der Jahre war der Lack stumpf geworden, bot dem Auge jedoch einen freundlichen Anblick. Das war der Raum einer Frau, während die vordere Bibliothek eine männliche Ausstrahlung hatte.
»Schauen Sie sich um.« Moira ließ ihre Rechte einen Kreis beschreiben, der den gesamten Raum einschloss. »Und keine
Angst, die Tür hat von innen eine normale Klinke.« Sie zeigte es Nola.
Alleingelassen wanderte sie durch den Raum. Nicht alle Schränke waren vom ersten bis zum letzten Platz gefüllt, offenbar war das spezielle Wissen der Werwölfe nicht so umfangreich wie das menschliche. Sie schloss einen der Schränke auf und nahm ein in blaues Leder gebundenes Buch heraus.
»Von Werwolfjägern«, lautete der Titel. Das versprach, interessant zu werden. Nola kuschelte sich in einen Sessel und begann zu lesen.
Jemand hatte über Jahrzehnte, Jahrhunderte hinweg die Namen und Taten der Werwolfjäger zusammengetragen. Sie suchte nach Pawel Tworek. Natürlich war er in dem Buch vertreten und hatte tatsächlich im 17. Jahrhundert in Danzig sein Unwesen getrieben. Alles, was Rhodry über ihn erzählt hatte, stimmte. Mit spinnwebfeiner Schrift hatte jemand Kommentare ins Buch geschrieben. Bei Pawel Tworek stand: Gnadenlos, bei seinem Tod war Danzig praktisch werwolfsfrei, die zwei oder drei Letzten haben das Rudel aufgelöst und sich den Krakauern angeschlossen.
Danach fand sie ein anderes Buch: »Vom Wesen der Werwölfe«. Vielleicht half ihr das, dieses Ganze hier besser zu verstehen, Rhodry besser zu verstehen. Der Autor war anonym, und er hatte sich offenbar nicht entscheiden können,
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