Der Kuss des Wolfes: Roman (German Edition)
Glaskrug wieder unversehrt war, wusch Wolfer ihn und die restlichen Teller wesentlich vorsichtiger ab als zuvor.
Seine Wut hatte einen Grund: Alys und ihr Verhalten ihm gegenüber beim Essen. Sie hatte ihn mit Nichtachtung gestraft, wo er doch nur gewollt hatte, dass sie ihn anlächelte, dass sie die lockenden rosa Lippen verzog, die er – und nur er – küssen wollte.
Er hob den letzten Teller aus dem Wasser, stellte ihn behutsam zu den anderen auf das Trockengestell, zog den Korken aus der Spüle und trocknete seine Hände und Arme ab. Dann tupfte er das Band aus ihrem Haar mit einem Tuch etwas trockener und betrachtete es genauer.
Es kann doch nicht wirklich die bewusste Seidenschnur sein … oder doch? Wenn er eingehender darüber nachdachte …
Wenn seine Beute vor ihm flieht/Die Seidenschnur an seiner Hand … meine Hand. Ich habe nicht gesehen, dass sie Seide in das Armband eingeflochten hat – sie hat es aus einer Haarlocke angefertigt, die sie hinter ihrem Ohr abgeschnitten hat. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Sie kann mich durch nichts an sich gebunden haben, es sei denn … Nur dass ich meinen Zorn oft bezähmt und meine Faust nicht in irgendjemanden hineingeschmettert habe, weil ich dank dieses Armbandes an sie gedacht habe. Sie hat schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich ausgeübt …
Es verdrehte sich, wie immer, wenn es zu trocknen begann: ein Vermächtnis der daumengroßen Locke, aus der es angefertigt worden war. Automatisch strich er es glatt. Ist Wolfs Eheunterpfand. Alys … verheiratet … mit mir?
Er dachte darüber nach. Die Vorstellung erschien ihm gar nicht so abwegig – genauso wenig wie die Erkenntnis, dass sie jetzt eine erwachsene Frau war, ihn noch verwirrte, obwohl er sie als halb schüchterne, halb kühne Spielgefährtin und dann als in sich gekehrtes halbwüchsiges Mädchen in Erinnerung gehabt hatte, ein Mädchen, das vornehmlich mit ihm und nicht mit seinen Brüdern gespielt hatte, das immer ihm verstohlene Blicke zugeworfen hatte, Blicke, die ihm Unbehagen eingeflößt hatten, weil er sie nicht zu deuten vermochte.
Ihre Gesellschaft hatte ihm nicht die Art von Vergnügen verschafft, in das ihn einige der Mägde von Corvis eingeführt hatten, als er alt genug gewesen war – die Art, die man im Bett fand. Vergnügungen, die er nie mit Alys in Verbindung gebracht hatte … eben wegen des bewundernden Ausdrucks in ihren Augen, wie er jetzt erkannte. Er war noch nicht bereit gewesen, diese Bewunderung zu akzeptieren.
Sie hat schon immer zu mir gehört . Diese zweite Erkenntnis bewirkte, dass sich seine Brust schmerzhaft zusammenzog, um dann etwas darin freizusetzen, und das bescherte ihm ein berauschendes Gefühl von Freiheit und Vorfreude. Alles, was sie getan hat – wenn sie sich mutig und abenteuerlustig gegeben hat – all das geschah, weil sie mit mir zusammen sein wollte, nicht mit meinen Brüdern. Sie wollte immer nur mich. Deswegen ist sie vor ihrem grässlichen Onkel geflohen und nach Nightfall gekommen, weil sie sich bei mir sicher fühlt.
Diese Einsicht trieb ihn von dem Trockengestell fort, ohne daran zu denken, vorher das Geschirr abzutrocknen und wegzuräumen.
»Heda, du bist noch nicht fertig!«, empörte sich Koranen.
Wolfer schüttelte nur stumm den Kopf. Er musste sie finden. Er würde sie finden, und dann würden sie … würden sie …
»Ich bin ein Idiot«, murmelte er, ehe er sich wieder dem Geschirr zuwandte. Er konnte nicht einfach zu ihr hochgehen und ihr gestehen, dass er sie heiraten wollte. Schon gar nicht nach seinem Auftritt in der westlichen Halle, wo er zu verlegen gewesen war zuzugeben, dass er sie geküsst hatte.
»Das weiß ich schon lange«, spottete sein zweitjüngster Bruder, während Wolfer darüber nachgrübelte, was er tun sollte. »Aber könntest du mir vielleicht erklären, wieso du plötzlich zu dieser Einsicht gelangt bist?«
Wolfer machte erneut kehrt und marschierte aus der Spülküche. An der Tür drehte er sich noch einmal um, deutete mit einem Finger auf Koranen und grollte: »Für diese Bemerkung darfst du zu Ende abtrocknen!«
»He, so geht das aber nicht!« Sein Bruder funkelte ihn finster an.
Doch Wolfer stapfte schon davon. Er musste in Ruhe nachdenken und sich eine Strategie zurechtlegen.
SIEBTES KAPITEL
A lys erwachte sofort. Sie hatte immer in der Angst gelebt, ihr Onkel könne in ihre Kammer kommen und sie im Schlaf überraschen, daher hatte sie sich angewöhnt, bei dem leisesten
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