Der Kuss Im Kristall
begann, auf und ab zu laufen. Dabei hielt sie den Kopf gesenkt und die Finger noch immer an die Stirn gepresst. „Es ist mir gleichgültig, was die anderen sagen, Alethea. Nach allem, was ich beobachtet habe, nehme ich nicht an, dass McHugh seine Frau sehr geliebt hat. Ich kannte Lady Maeve. Ich habe sie zu meinen Freitagssalons eingeladen und nicht sehr viel Liebenswertes an ihr gefunden. Sie war sehr launisch und ziemlich arrogant. Durch ihre Heirat mit McHugh ist sie in der Gesellschaft aufgestiegen, ein Parvenü. Und es war allgemein bekannt, dass sie einen Geliebten hatte, auch wenn sie so diskret war, den Namen des Mannes geheim zu halten. Niemand vermochte je zu erraten, wer den Mut besaß, sich mit McHugh anzulegen.“
Maeve? Die legendäre Maeve? Alethea dachte zurück an ihre Gespräche mit McHugh. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er je von seiner Liebe und Hingabe gesprochen hatte, aber ebenso wenig erinnerte sie sich daran, dass er das geleugnet hätte. Hatte Tante Grace recht? Aber wenn dem so wäre, warum war McHugh dann so sehr darauf versessen, sie aus seinem Leben fernzuhalten? Aber ja. Madame Zoe. Der Grund für den Tod seiner Familie und seiner Inhaftierung.
„Hast du ihn gefragt, ob er sich nach Maeve sehnt? Du bist ihr in jeder Hinsicht überlegen, Alethea. Wenn Glenross das nicht sieht, muss er blind sein.“
Beinahe hätte Alethea gelächelt, als sie bemerkte, wie Grace versuchte, streng zu wirken, und doch nur wenig älter war als Alethea selbst. „Ich glaube, du bist mir gegenüber nicht ganz unvoreingenommen.“
Graces Haushälterin klopfte höflich an. „Verzeihung, Mrs. Forbush, aber das hier ist gerade für sie abgegeben worden. Der Junge sagte, es wäre dringend.“ Sie legte einen Umschlag auf den Tisch und verließ den Raum.
„Es ist von Barrington.“ Grace brach das Siegel und öffnete den Umschlag. Dann überflog sie die Zeilen und sank auf einen Stuhl. „Oh, Alethea!“
Die eilte an Graces Seite und nahm ihr den Umschlag aus der Hand. „Was ist es?“, fragte sie.
„McHugh.“
Mit heftig klopfendem Herzen faltete Alethea das Blatt auseinander und las die wenigen Zeilen.
„Meine liebe Mrs. Forbush, ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, dass Robert McHugh, Lord Glenross, heute Morgen inhaftiert wurde wegen mehrerer Morde, deren letzter jener an Lord Kilgrew war. Er wurde nach Newgate gebracht, wo er die Anklage erwarten wird. Sollte Ihre Nichte gehofft haben, mit den McHughs – entweder mit Glenross oder seinem Bruder – eine Verbindung einzugehen, so würde ich davon abraten. Bitte teilen Sie ihr mein Bedauern mit. Später am Nachmittag werde ich vorbeikommen und Ihnen die Einzelheiten berichten. Grüße, Barrington.“
Alethea faltete das Blatt wieder zusammen und reichte es ihrer Tante zurück. Sie überlegte. „Kennst du Lord Auberville gut genug, um von ihm einen Gefallen zu erbitten, Tante Grace?“
„Ja.“
„Bitte ihn, dafür zu sorgen, dass ich McHugh jetzt gleich besuchen kann“, rief sie über die Schulter hinweg, während sie schon unterwegs zu ihrem Zimmer war, um sich anzukleiden. „Es ist dringend. McHughs Zukunft hängt davon ab. Und meine auch.“
Die Erlaubnis für Aletheas Besuch traf innerhalb der nächsten Stunde ein. Da McHugh als außerordentlich gefährlich angesehen wurde, hielt man ihn in einer Zelle unterhalb der Erdoberfläche fest. Ein Gespräch in einem der Besucherräume war ihr nicht gestattet worden, und Auberville hatte nichts dagegen tun können. Man hatte ihr gesagt, dass sie in seine Zelle gehen musste, wenn sie McHugh sprechen wollte. Auberville schickte ein Fläschchen mit einem starken Duftwasser und eine Liste mit den Gegenständen, die sie bei sich haben durfte.
Sie war froh, dass sie Grace gebeten hatte, in der Kutsche zu warten. Alethea hatte nicht damit gerechnet, von einer Gefängnisaufseherin durchsucht zu werden. So peinlich wie das gewesen war, waren doch die vulgären Bemerkungen überall noch schlimmer. Ständig verlangte man von ihr Geld, doch ihre Bitte, McHugh dafür bessere Bedingungen zuzusichern, wurde abgelehnt. Man sagte ihr, er sei der gefährlichste Schurke in Newgate, und dass man ihn nicht aus seiner Zelle lassen würde, selbst wenn das Gefängnis in Flammen stand.
In Begleitung von zwei stämmigen Wärtern wurde sie durch verschiedene Gänge und dann eine Treppe nach unten geführt. Mit jedem Schritt wurde der Gestank schlimmer. In diesen Teil des Gefängnisses drang niemals das
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