Der Kuss Im Kristall
Gewissen protestierte, weil sie schweigen sollte, während ihm Verbrechen zur Last gelegt wurden, von denen sie wusste, dass er sie nicht begangen haben konnte. Er wollte nicht frei sein auf Kosten ihrer Würde und der Zukunft ihrer Familie. „Ich verbiete es, Alethea.“
Sie wandte sich ab, und etwas in ihrer Haltung verriet ihm, dass sie aufgab. Sie hielt ihm das andere Päckchen hin.
Er nahm es, öffnete es und betrachtete sehnsüchtig Brot und Käse. „Speisen für die Götter“, sagte er seufzend.
Zwei glänzende Tränen liefen ihr über die Wangen. Himmel, nur eine letzte Umarmung noch! Wie sehr er sich danach sehnte, sie zu lieben und ihr zu sagen, was er für sie empfand! Wäre sie schuldig gewesen, er hätte ihr alles verziehen – von Zoes Wahrsagerei bis zu dem Verrat seines Verstecks. Aber jetzt zählte nur die Zukunft. Er war Realist, und ihm war klar, dass er schon so gut wie verurteilt war. Vermutlich würde man ihn aufhängen, und er wollte nicht, dass sie das Leben mit Trauer um ihn vergeudete. Er würde ihr das einzige Geschenk machen, das ihm möglich war, auch wenn es ihm das Herz zerriss.
„Geh, Alethea“, stieß er hervor und presste die Hände an seine Seiten, damit er sie nicht doch in die Arme schloss. „Und komm nicht wieder her. Ich will dich nicht sehen.“ Er schlug gegen die Eisenstäbe und bedeutete dem Wärter, dass der Besuch vorüber war.
Alethea lief in dem kleinen Salon auf und ab, überdachte dabei ihre Situation von allen Seiten, während sie darauf wartete, dass Dianthe und Grace zum Tee hinunterkamen. Sollte sie McHughs Bitte um Schweigen respektieren? Oder alles erzählen – alle Einzelheiten über den Mord an Tante Henrietta, ihre Verkleidung als Wahrsagerin, ihre Indiskretion mit McHugh? Und er hatte recht – es wäre unmöglich, das geheim zu halten. Sie würden den Stoff für die Londoner Klatschbasen liefern. Dianthe würde in der Gesellschaft unmöglich werden, und dieselben Leute, die Bennett während der Ferien aufgenommen und in der Schule mit ihm Cricket gespielt hatten, würden ihn dann verstoßen.
Es machte ihr nichts aus, alles zu verlieren, aber es war ihr unerträglich, dass Dianthe und Bennett ihretwegen leiden müssten. Sie wären schlimmer dran, als wenn sie mit Tante Henrietta auf dem Lande geblieben und Stickereiarbeiten gemacht hätte, während die Steuern und täglichen Ausgaben die Reste ihres Vermögens verzehrt hätten. Sie musste also wählen zwischen der Pflicht gegenüber ihrer Familie und allem, wofür sie und Tante Henrietta so hart gearbeitet hatten, oder sie legte ihre Sünden offen im Tausch für McHughs Freiheit. Vielleicht sogar sein Leben.
Sie stellte ihn sich wieder vor, wie er in der kleinen Zelle ausgesehen hatte, zitternd vor Kälte und den Dämonen seiner Vergangenheit, und sie wusste, sie konnte ihn nicht dort lassen. Obwohl alles in ihr danach verlangte, ihre Familie zu schützen, fasste sie einen Entschluss und sprach ein stilles Gebet.
„Ich bin so aufgeregt wegen des Maskenballs heute Abend. Was für eine wundervolle Art, das neue Jahr zu begrüßen“, plapperte Dianthe, während sie und Grace eintraten.
Alethea wandte sich vom Fenster ab und prägte sich das glückliche Gesicht ihrer Schwester ein. Die heiteren Tagen waren gezählt und die Zukunft ungewiss.
„Hast du mein Kostüm gesehen, Binky? Ich werde mich als Königin Elizabeth verkleiden, komplett mit Spitzenkragen und Krone. Was wirst du anziehen?“
„Ich – ich habe ganz vergessen, dass heute der Maskenball stattfindet, Dianthe. Ich habe Kopfschmerzen. Ich glaube nicht, dass ich euch begleiten werde.“
„Du musst! Sir Martin sagte, er würde erst gehen, wenn er mit dir getanzt hat!“
Wie überraschend in Anbetracht ihrer Zurückweisung. „Wann hat er das gesagt?“
„Heute Morgen, als Grace und ich eine Spazierfahrt durch Hyde Park unternahmen. Er hielt uns an, und wir plauderten sehr nett. Ich glaube, er mag dich immer noch.“
„Das wird sich bald ändern“, meinte sie. „Wenn er erfährt, was ich getan habe …“
„Oh, ich bin sicher, es ist nichts, das er dir nicht verzeihen würde, Binky. Er war immer sehr aufmerksam – vor allem, seit Lord Glenross sich für dich interessierte.“
Tante Grace seufzte und begann, Tee in drei Tassen zu gießen. „Genug geneckt, Dianthe. Alethea, gibt es etwas, das du uns mitteilen willst?“
Die Worte hatten ihr auf der Zunge gelegen, seit Dianthe in London eingetroffen war, und jetzt
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