Der Kuss Im Kristall
„Welches Ganze?“, gab sie zurück. Der Wein weckte ihren Widerspruchsgeist.
McHughs Gelächter wurde von Grace unterbrochen, die in die Hände klatschte, um die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zu lenken, und zum Versteckspiel aufforderte.
„Wählen Sie Ihre Partner“, sagte sie. „Schnell jetzt. Es wird schon gezählt!“
Sir Martin machte ein paar Schritte auf Alethea zu, doch Grace fing ihn ab und bat ihn, sich einer Witwe anzunehmen, deren Familie für die Feiertage auf den Kontinent gereist war. Er fügte sich gut gelaunt.
Nachdem er sie beide beobachtet hatte, bemerkte McHugh: „So. Also Sie und Martin, ja?“
Zuerst wollte Alethea leugnen, doch dann überlegte sie es sich anders. Es war am besten, wenn McHugh glaubte, dass ihre Zuneigung einem anderen gehörte. Sie zuckte die Achseln.
„Nun, das Schicksal hat Sie mit mir zusammengebracht.“ Er nahm ihre Hand und führte Alethea aus dem Salon und in den langen Gang hinaus. „Sie sind im Vorteil, Miss Lovejoy, da Sie hier alle Ecken und Winkel kennen. Wo ist das nächste Versteck?“
Sie kamen an einem Abstellraum vorbei, der unter der Haupttreppe verborgen war, und Alethea stieß ganz leicht gegen die Vertäfelung. Eine Feder sprang zurück, und die Tür öffnete sich. Ohne darüber nachzudenken, trat sie hinein und bedeutete McHugh, ihr zu folgen. „Beeilen Sie sich! Es ist schon fast zu Ende gezählt worden!“ Er machte eine abwehrende Geste, schließlich aber gab er nach und schlüpfte hinter Alethea in den kleinen Raum.
Dann verschloss sie die Kammer mit einem kleinen Lederband. Ein Lichtstreifen drang unter der Tür hindurch und spendete gerade so viel Helligkeit, dass Alethea McHughs Umrisse ausmachen konnte. Der warme Wein und die seltsame Sehnsucht, die seit dem vergangenen Abend nicht weniger geworden war, ließ sie kühn werden, und sie zog ihn an seiner Krawatte näher, bis ihre Lippen sich berührten.
Er widersetzte sich nur einen Moment lang. Ehe sie ihr Handeln bedauern konnte, umschlang er sie mit den Armen und schob seine Zunge zwischen ihre Lippen, sodass sie leise aufstöhnte. Die Dunkelheit verstärkte ihre Empfindungen, ließ sie seine großen Händen deutlicher auf ihrem Rücken spüren, den herben Duft seines Rasierwassers wahrnehmen und den gleichmäßigen Schlag seines Herzens in der Stille fühlen.
Er hatte sich geduckt, um in den Verschlag eintreten zu können, und jetzt richtete er sich auf, stieß sich den Kopf an der Decke und stolperte beinahe über eine Kiste, die in einer Ecke stand.
„Verdammt!“ Sein leiser Fluch klang so, als wäre ihm überaus unbehaglich zumute.
„Psst“, flüsterte sie. „Man kann Sie hören.“
„Was ist das hier?“
„Tante Graces Abstellkammer. Kisten und alte Hutschachteln. Solche Sachen.“
„Wie – wie komme ich hier heraus?“
„Unten ist ein Riemen. Drücken Sie darauf, damit die Feder nachgibt. Dann ziehen Sie die Tür an dem Band auf. Geben Sie auf?“
„Aufgeben?“
Was war denn nur mit ihm los? „Ja. Das Spiel.“
Als draußen vor der Tür Schritte laut wurden, erstarrte er. Dann drängte er sich näher an Alethea, stieß sie beinahe um und presste sie schließlich an sich. „Ich – nein.“
„Dann verhalten Sie sich ruhig.“
Sie merkte, wie angespannt seine Muskeln unter dem glatten Stoff seiner Jacke waren. „Halten Sie mich ruhig, Alethea“, sagte er herausfordernd, beinahe verzweifelt. Dann beugte er den Kopf vor und küsste sie wieder.
Sie stieß gegen seine Brust und flüsterte verärgert: „Sie Schuft! Wie können Sie sich nach gestern Abend mir gegenüber Freiheiten herausnehmen?“
„Ja, ich bin ein Schuft. Und ein Ungeheuer. Und ein wilder Stier. Sie sind nicht die Erste, die mich so nennt“, raunte er. „Welchen Preis verlangst du?“
„Mehr als Sie haben, McHugh. Mehr als irgendein Mann hat. Und jetzt lassen Sie mich los.“
„Nein, Alethea. Ich werde dich nicht loslassen. Du hältst mich am besten ganz fest.“
„Haben Sie den Verstand verloren?“, fragte sie empört.
„Den Verstand verloren? Ich kann die Dunkelheit nicht ertragen und auch nicht die Enge. Aber mit dir jetzt – mit dir ist es auszuhalten.“
Sir Martins Worte fielen ihr wieder ein. Tagelang in einer kleinen Kiste eingesperrt zu sein, hat gewisse Auswirkungen auf einen Mann. Er könnte – nun ja, verrückt werden. Aus irgendeinem Grund schienen ihr die Narben an seinem Körper, die sie gestern gesehen hatten, weniger schrecklich als dieses
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