Der Kuss
seine Mutter hatte einen energischen Griff. Sie war nun entschlossen, ihrem Sohn bei seinem Liebeskummer beizustehen, komme was da wolle.
„Wie ich gestern Abend sagte: Mit siebzehn eine eigene Wohnung, da stimmt was nicht“, ritt sie wieder auf diesem Thema herum. „Versprich mit etwas, Michael!“, forderte sie plötzlich, und fixierte ihren Sohn, „Prügel dich nie wieder um ein Mädchen. Prügel dich am besten überhaupt
nie wieder!
Versprichst du mir das?“
Michael seufzte genervt. Was für eine Ahnung hatte sie von seinem Leben? Er
prügelte
sich nicht, er
wurde
verprügelt. Lukas hatte ihm einmal geraten, zurückzuschlagen, dann würden sie ihn in der Schule respektieren. Lukas! Michaels Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.
„Ich habe mich nicht …“, begann Michael sich zu rechtfertigen, hielt jedoch inne. Denn dann hätte seine Mutter wieder Fragen gestellt – etwa, woher die geschwollene Lippe kam. Er hätte wieder lügen müssen, und bei seinem Talent hätte er es vermutlich geschafft, sogar Godzilla in die Geschichte mit einzubauen. „Okay“, seufzte er und verdrehte die Augen, „Okay, ich werde mich
niemals
prügeln, heiliges Ehrenwort!“
War es eine Lüge, wenn man ein Versprechen gab, das man nur aus Mangel an Gelegenheit oder Mut nicht brechen würde? Michael dachte mit grimmiger Entschlossenheit an diesen tätowierten, athletischen Kerl, den er bei Lukas gesehen hatte.
***
Die Schaukel quietschte und der Spielplatz lag im langen Schatten des Wohnhauses. Allmählich wurde es kühler und stiller. Die Kinder mussten, eins nach dem anderen, ins Haus, Abendessen, duschen, und ab ins Bett. Dafür saß Michael die Zeit hier ab bis er der Meinung war, er wäre lang genug
Unterwegs
gewesen. Einerseits hatte ihn seine Mutter beinahe mit einem Fußtritt hinaus befördert, um das
schöne Wetter
zu
genießen,
andererseits hätte er ihr Geplapper ohnehin nicht mehr lange ausgehalten, da es im Endeffekt dann doch Meilenweit an dem vorbeiging, was ihn quälte.
Also saß er hier auf der Schaukel und pendelte langsam vor und zurück. Dabei ließ er die Schultern und den Kopf hängen und sah seinen Schuhspitzen zu, die langweilige, kleine Gruben in den Kies bohrten und wieder verschütteten.
„Scheiß Kerle!“, schimpfte plötzlich jemand neben Michael. Er war so in Gedanken gewesen, dass er nicht mitbekommen hatte, dass sich jemand auf die freie Schaukel neben ihn gesetzt hatte.
Es war ein Mädchen, geringfügig größer und älter als er, schwarzes, glattes Haar, das es streng hinter die Ohren geklemmt hatte, und ein Kleid, das viel zu niedlich für sein Alter war. Michael hatte das bei Frauen ohnehin noch nie begriffen. Während er verzweifelt darum kämpfte, männlicher zu wirken, versuchten selbst Frauen wie seine Mutter irgendwie – süß – auszusehen. Kurzes Kleid mit kurzen Ärmeln, kleinen Blümchen und harmlose Pastellfarben. Sie störte!
„Anwesende ausgenommen“, räumte sie ein. „Oder bist du auch ein Scheißkerl?“, fragte sie.
„Gib dir keine Mühe“, brummte Michael. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war eine Frau, die ihn anbaggerte.
„Na, da hat aber einer
gute
Laune“, ätzte sie und gab ihrer Schaukel einen Schubs. Michael überlegte, einfach zu gehen. Andererseits,
er
war zuerst hier gewesen, warum sollte er sich vertreiben lassen? Das hier war
seine
Schmollschaukel und sie würde es bleiben, bis er mit falschem Gebiss und künstlichem Hüftgelenk hierher käme um Tauben zu füttern. Ihm war danach, auch gleich bis dahin hier sitzen zu bleiben.
Plötzlich bremste die Nervensäge ihr emsiges Schaukeln ab und würgte, fast, als wolle sie Michael vor die Füße kotzen, bekam sich aber gerade noch in den Griff.
„Scheiße!“, krächzte sie und griff sich mit bitterer Miene an den Hals. „Ich rate dir, werd' nie schwanger.“ Michael musterte sie, – genauer gesagt glotzte er auf ihren Bauch. Ein kleiner, fester Hügel – nichts, das ihn veranlasst hätte, eine Schwangerschaft zu vermuten.
„Okay.“ Er zuckte teilnahmslos mit den Schultern. Sie kicherte, und Michael wusste nicht, ob über ihn oder ihren eigenen Scherz. Er ging nicht weiter darauf ein, sondern baumelte lustlos weiter vor und zurück, starrte Kieselsteine zu Tode.
„Wer ist
dir
denn über die Leber gelaufen?“, nervte sie. Offenbar begriff sie nicht, dass er seine Ruhe wollte.
„Ein Scheißkerl!“, rutschte es mürrisch aus Michael raus. Sie musterte ihn interessiert, mit
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