Der Kuss
forderte Lukas eindringlich und funkelte wild.
Da konnte Michael einen Blick in die Wohnung werfen und sehen, wem die Stimme gehörte. Einem Kerl, vielleicht Mitte zwanzig, ebenfalls mit nacktem, verschwitzten Oberkörper, definiert, drahtig und mit einem gefährlichen Tattoo, das sich um die halbe Hautoberfläche rankte. Er war, auf eine sehr bedrohliche Weise, attraktiv, hatte kurzes, braunes Haar, auffällig leuchtende Augen und zwinkerte Michael mit einer Zigarette im Mundwinkel zu.
Michaels Augen begannen zu brennen, ihm wurde immer heißer und heißer, als schütte jemand langsam kochendes Frittierfett über seinen Körper. Er konnte sich nicht bewegen. Lukas wollte die Tür schließen, da war der Kerl schon hinter ihm und hielt sie fest. Er war einen halben Kopf größer als Lukas und schlang ihm einen Arm um die Schultern, schob ihm die Zigarette zwischen die Lippen, die er eben noch in seinem eigenen Mundwinkel stecken gehabt hatte. Mit einem anzüglichen Grinsen musterte er Michael von Fuß bis Kopf. Lukas übernahm die Zigarette und blies Michael, mit einem durchdringenden Blick, Qualm ins Gesicht.
„Wir kaufen keine Pfadfinderkekse“, erklärte der Kerl, zog Lukas in die Wohnung zurück und Michael konnte noch hören, wie er fragte: „Läuten hier öfter komische Kinder an?“ Dann fiel die Tür ins Schloss.
Schier eine halbe Ewigkeit stand Michael reglos da. Die Hitze wich bald einer schmerzhaften Kälte, stach auf seiner Haut, er spürte seine Finger nicht mehr, sein Gesicht wurde taub. Was, zum Teufel, war das eben? Wer war dieser Kerl? Hatten sie …? Waren sie …?
Lukas' Worte von vorletzter Nacht drangen immer deutlicher in Michaels Bewusstsein: Nur im
Hier und Jetzt
lieben – und niemanden
ausschließlich!
Hieß das also, Lukas
liebte
auch diesen tätowierten Kerl? Oder hieß das, gestern hatte er Michael
geliebt
, heute eben einen anderen? War es das, was er Michael hatte klar machen wollen? Dass es nichts Exklusives gab, keine Beziehung – einfach nur unverbindlichen Spaß? Und Michael hatte sich darauf auch noch bereitwillig eingelassen! Es hatte, als die Verlockungen noch vor ihm gelegen hatten, weitaus attraktiver geklungen als jetzt, da er das volle Ausmaß dieser Haltung zu begreifen begann.
Vielleicht hatte seine Mutter mit ihrer Einschätzung von Lukas recht gehabt. Vielleicht hatten ihre Worte deswegen so getroffen. Michael hatte doch selbst gemerkt, dass Lukas Probleme hatte. Wie viel wusste er denn wirklich von diesem Kerl? Musste man die Geschichte und genaueren Lebensumstände eines Menschen kennen, um ihn zu lieben? Reichten dafür nicht viele gemeinsam verbrachte Stunden, Anziehung, das Gefühl, dass einem eben etwas –
mehr
verband?
***
„Musst du so einen Saustall …“, nörgelte Michaels Mutter, als sie die Tür zu seinem düsteren Zimmer aufstieß, unterbrach sich jedoch sogleich.
„Warum liegst du denn hier im Dunkeln?“, schalt sie in die Finsternis und stolperte, sich an Schränken und Wänden entlang tastend, zum Fenster. Sie öffnete die Vorhänge und ließ die Jalousien hoch rattern, doch es blieb dunkel. Michael hatte mit Klebestreifen Kartons an die Scheiben geheftet, damit es auch wirklich –
gruftig,
wurde. Mit einem
Ratsch
und verständnislosen Flüchen, entfernte sie die Vorrichtung. Die Helligkeit platzte in die depressive Höhle und tat in den Augen weh. Michael warf sich die Decke über den Kopf.
„Was soll das? Bei diesem schönen Wetter hier zu vergammeln?“ Mit erstaunlicher Kraft zerrte sie so rasch an der Bettdecke, dass Michael sie nicht mehr festhalten konnte. Flink holte er das Kissen unter dem Kopf hervor und drückte es auf seinen Schädel. Er könnte sich ersticken. Aber er musste schnell sein, seine Mutter würde ihm sicher verbieten, mit siebzehn Jahren zu sterben – egal was der Gesetzgeber sagte.
„Kannst du mir mal erklären, was die Müslischüssel im Bad zu suchen hat und warum deine Kleider auf dem Küchenboden herumliegen?“, redete sie weiter auf ihn ein und zerrte auch am Kopfkissen. Doch Michael hielt es so fest, dass es ein zähes Ringen wurde. Sie war stärker.
Mit einem unreifen, quengelnden Ton warf sich Michael auf den Bauch und presste das Gesicht in die Matratze. Der Plan, sich im Bett zu ersticken, geriet zu einer gewissen Herausforderung.
„Du stehst jetzt auf, räumst deine Sachen weg und unternimmst etwas!“, forderte seine Mutter nachdrücklich. Michael brummte genervt und schlug mit geballten
Weitere Kostenlose Bücher