Der Lambertimord
Putz oder von losen Steinen befreit. Die Arbeiten würden sicher noch einige Wochen dauern. Böskes fühlte mit sachkundigen Händen über die schrundigen Wände. Die Schäden waren doch größer als ursprünglich vermutet. Das hatte er den Verantwortlichen bei der Stadt schon vor dem eigentlichen Beginn der Arbeiten gesagt. Der Regen und das verdammte Efeu hatten ganze Arbeit geleistet. Weil er Fachmann war und zudem den alten Turm mochte, war er froh, daß sich der Förderkreis mit seinem Nein zum Grün am Turm nach langem Hin und Her letztlich hatte durchsetzen können.
Dieter Böskes war auf der letzten Etage des Gerüsts angekommen. Er blieb stehen und sah durch die offene Plane hinunter. Seit dem 14. Jahrhundert stand der Turm schon in der Mitte des Dorfes. Nachdem das eigentliche Kirchenschiff abgetragen worden war, hatte der Lambertiturm 100 Jahre mehr oder weniger nutzlos auf dem Platz gestanden.
Wer weiß, wo die Glocken geblieben sind, dachte Böskes, der sich eigentlich nie ausführlich mit der Geschichte des Dorfes oder des Turms beschäftigt hatte. Der Kirchturm war einfach immer nur da gewesen, ohne daß er ihn zu Nachforschungen gereizt hätte. Der »Alte Lambert«, wie er bei den Breyellern hieß, war eine im Sinne des Wortes feste Größe im Dorfleben gewesen, ohne sonderlich aufzufallen. Allerdings hatten Denkmalschützer schon früh erkannt, welches Kleinod in der Dorfmitte stand. Und nun war es dem Förderkreis zu verdanken, daß die Bausubstanz nicht nur erhalten werden sollte, sondern auch über eine Nutzung des Turms nachgedacht wurde.
Wie sich die Zeiten änderten. Dieter Böskes konnte sich noch gut erinnern, wie er als junger Mann auf seiner cremefarbenen Vespa durch das Dorf gefahren war, um seine Christa zum Picknick oder zu einem Badeausflug abzuholen. Sie hatte wegen des Fahrtwinds ihren Petticoat festhalten müssen. Nun war er schon lange nicht mehr mit seiner Frau Schwimmen gewesen, geschweige denn, daß sie einen Korb gepackt und ins Grüne gefahren wären. Irgendwann war ihnen dieser Wunsch abhanden gekommen. Böskes konnte noch nicht einmal den Grund dafür nennen. Vermutlich war der Alltag schuld. Die ewigen Termine und Sorgen um die Firma, der Hausbau, die letztlich doch verschiedenen Interessen. Das Ausbleiben des Nachwuchses. Er wußte es nicht. Und es war auch nicht mehr wichtig.
Vor ihm lag das rote Pflaster des Platzes. Es war später Vormittag, und trotzdem war kaum jemand im Dorf unterwegs. In der Stadtbücherei gegenüber brannte Licht. Böskes konnte an einem der Fenster die schmale Gestalt des Büchereileiters erkennen, der offenbar tief in Gedanken versunken auf den Platz sah. Im Café neben dem Turm war ebenfalls Licht. Das künstliche Licht hinter den Fenstern machte den Wintertag noch düsterer. Er konnte erkennen, daß auch schräg gegenüber im alten Rathaus die Deckenbeleuchtung eingeschaltet war. Dort versuchte die Sonderkommission der Polizei immer noch, den Mord an Heike und diesem Neonazi aufzuklären. Vor dem Gebäude parkte ein Streifenwagen. Er konnte deutlich das große weiße VIE und die Nummer auf dem Autodach erkennen.
Böskes wußte, daß das Gebäude verkauft werden sollte. Ein Investor wollte dort eine Sozialstation oder ein Behandlungszentrum einrichten. Böskes war als Bauunternehmer im Gespräch und hatte schon erste Vorschläge und Baukostenberechnungen abgegeben. Wenn er recht überlegte, liefen die Geschäfte in den vergangenen Monaten doch nicht so schlecht. Kollegen, die er auf Tagungen gesprochen hatte, waren da ganz anders dran. Eigentlich hatte er in Nettetal sein Auskommen. Konjunkturelle Schwankungen hatte es immer wieder mal gegeben.
Gegenüber im Hochhaus, das er als einen seiner ersten Aufträge Anfang der 60er Jahre hochgezogen hatte, war in keinem der Fenster Licht zu sehen. Nur der Supermarkt im Erdgeschoß war hell erleuchtet. Kundschaft konnte er keine erkennen. Vor lauter Freude über den Bauauftrag war er damals mit Vander ein ganzes Wochenende an der Mosel gewesen.
Der geldgierige Vander. Fast tat er ihm leid. Dieter Böskes drehte sich um und ging vorsichtig an der Seite des Turms vorbei Richtung Biether Straße. Auch dort war an der Ecke die Plane zurückgeschlagen. So lange ist es schon her, dachte er, daß von Rixen aus die ganze Häuserzeile abgerissen worden war, um die Ortsdurchfahrt zu verbreitern. Die an die Stelle der alten Häuser gesetzten Neubauten konnten seiner Meinung nach nur schlecht diese auch für
Weitere Kostenlose Bücher