Der Lambertimord
ihn schlimme Planungssünde der 60er Jahre überdecken. Bis hinter die Metzgerei, die vor mehr als 80 Jahren in eine alte Zigarrenfabrik eingezogen war, waren die alten Häuser abgerissen worden. Ein Stück Dorfgeschichte einfach so vernichtet. Das würde heute kein Planer mehr vorschlagen. Ihm kam der Heimatdichter Ferdie Reugels in den Sinn. Böskes sah auf seine Hände, mit denen er die eisigen Gerüststangen umklammerte. Gut, daß es so jemanden wie ihn gibt, der sich so liebevoll um die Bewahrung der Dorfchronik kümmert. Was mache ich mir ausgerechnet heute diese Gedanken, wunderte sich Böskes. Er atmete tief die kalte Luft ein und sah zum Horizont. Bei schönem Wetter soll man bis Holland gucken können, hatte ihm Joosten gesagt. Holland. Holland, ach Holland. Böskes mochte nicht weiterdenken.
Joosten war als Vorsitzender des Förderkreises mittlerweile förmlich mit dem Turm und seiner Geschichte verwachsen. Dieter Böskes war froh, daß er mit dem Fachmann für Baustoffe sozusagen auf Augenhöhe über die notwendigen Arbeiten am Turm hatte verhandeln können. Es war sicher ein Glücksgriff für den rührigen Verein, daß er einen dermaßen sachkundigen Vorsitzenden hatte.
Vander. Dieter Böskes mochte gar nicht an diesen Betrüger und Erpresser denken. Wie sich ein Mensch doch wandeln konnte im Verlauf seines Lebens. Wie viel Spaß hatte er mit ihm gehabt, wie viel hatten sie beide zusammen in dieser Stadt bewegen können. Nie wäre ihm in den Sinn gekommen, daß Vander ihn eines Tages so verraten würde. Zum Beispiel der Blumenladen gegenüber: die frühere Wirtschaft Haus Grenzland. Dort hatten sie nächtelang durchgesoffen und sich ewige Freundschaft geschworen. Und nun hatte Vander ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Einfach so, mit ein paar wenigen Sätzen.
Natürlich hätte er sich nie mit Heike einlassen dürfen. Das wußte er spätestens, seit Vander ihn erpreßte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, mußte er zugeben, daß er in seinem Innersten nie daran geglaubt hatte, mit Heike ein neues Leben anfangen zu können. Obwohl sie sich oft in seine Arme gekuschelt hatte, war sie ihm auf eine unbeschreibliche Art fremd geblieben, so als habe stets ein unsichtbares Gewebe den letzten Kontakt mit ihr verhindert. Zu schnell hatte er damals diese Gedanken von sich geschoben und nur für den Augenblick gelebt. An Toni van den Hövel hatte er dabei nie gedacht. Erst Vander hatte ihn darauf gebracht, daß sein Freund van den Hövel unter Umständen sein Schwiegervater hätte werden können.
Böskes zog den schweren Mantel enger um seinen Körper. Er versuchte, den Gedanken daran abzuschütteln. Allein diese Vorstellung hätte ihn sicher von der Beziehung zu Heike zurückschrecken lassen. Da war er sich ganz sicher. Aber diese Gedanken waren ihm weder damals in ihrer Wohnung noch bei den zahlreichen anderen Treffen in den verschiedenen Hotels oder bei ihren Ausflügen in die Wälder der Umgebung gekommen.
Dieter Böskes ging die wenigen Schritte zurück zur Marktplatzseite. Es hatte zu schneien begonnen. Erst wenig, dann immer dichter flogen die Flocken um den Turm. Sie waren noch dünn. Wer weiß, wie lange es schneien würde, und ob der Schnee liegen bleiben würde, dachte Dieter Böskes. Er faßte ans Geländer und zog die Hand sofort zurück. Das blanke Metall war eiskalt. Erst jetzt bemerkte er, daß die Kälte durch den dünnen Stoff seiner Hose zog. Böskes begann, vor Kälte leicht zu zittern. Sofort versuchte er diesen Impuls zu unterdrücken. Er wußte, daß es reine Willensache war, ob er weiter fror.
Zu seinen Füßen ging eine Frau in dickem Mantel und mit Kopftuch in Richtung Friedhof. Er mußte wieder an Christa denken. Er hatte ihr gesagt, daß er noch einmal zur Baustelle mußte, um zu kontrollieren, ob sie auch winterfest war. Zu groß sei die Gefahr, daß spielende Kinder durch den Bauzaun schlüpfen und dann auf dem Gerüst herumturnen könnten. Er wollte nicht für die Nachlässigkeit seiner Arbeiter aufkommen müssen. Sie hatte ihn zur Tür begleitet und hinterher gewunken, als er mit seinem Wagen davongefahren war.
Böskes beugte sich über das Geländer und sah hinunter. Wer hatte Heike ermordet und ihre Leiche an den Turm gelegt? Seit ihrem Tod beschäftigte ihn diese Frage, ohne daß er eine Antwort gewußt hätte. Nach allem, was er wußte, war sie nicht hier gestorben, sondern irgendwo anders umgebracht worden. Erschlagen, vermutlich mit einem Baseballschläger. Ein
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