Der Landarzt (German Edition)
Ueberlegungen aber, die ich in diesen Tagen der Trauer anstellte, hoben mich zu höheren Betrachtungen empor. Eine Zeitlang teilte ich die großen Gefühle des heidnischen Altertums; indem ich neue Rechte für den Menschen darin suchte, glaubte ich aber im Lichte der modernen Leuchten tiefer in den einst in Systeme gebrachten Fragen zu schürfen als die Alten. Epikur erlaubte den Selbstmord. Bildete er nicht die Ergänzung seiner Moral? Er brauchte die Sinnenfreude um jeden Preis. Entfiel diese Bedingung, so war es süß und statthaft für ein beseeltes Wesen, in die Ruhe der unbeseelten Natur einzugehen; da das einzige Ziel des Menschen das Glück oder die Hoffnung auf Glück war, so wurde für den, der litt und ohne Hoffnung litt, der Tod ein Gut: sich ihn freiwillig geben, war ein letzter Vernunftsakt. Diesen Akt lobte er nicht, noch tadelte er ihn; er begnügte sich, Bacchus ein Trankopfer darbringend, zu sagen: ›Sterben, das ist kein Grund zu lachen, das ist kein Grund zu weinen.‹ Moralischer und erfüllter von der Doktrin der Pflichten als die Epikureer, schrieben Zenon und die ganze Stoa dem Stoiker in gewissen Fällen den Selbstmord vor. Und zwar sprach er folgendermaßen: Der Mensch unterscheidet sich darin von dem unvernünftigen Tier, daß er selbst unumschränkt über seine Person verfügt; nehmt ihr ihm dies Recht zu leben und zu sterben, so macht ihr ihn zum Sklaven der Menschen und der Ereignisse. Dies als gültig anerkannte Lebens- und Todesrecht bildete ein wirksames Gegengewicht gegen alle natürlichen und sozialen Leiden; dieses nämliche Recht, dem Menschen über seinesgleichen verliehen, erzeugt alle Tyranneien. Die Macht des Menschen existiert also nirgendwo ohne eine unbegrenzte Aktionsfreiheit: muß der gewöhnliche Mensch den schimpflichen Konsequenzen eines nicht wiedergutzumachenden Fehls entgehen, so verliert er sein Schamgefühl und lebt; der Weise trinkt den Schierlingsbecher und stirbt. Muß er die Reste seines Lebens der Gicht, welche die Knochen zermürbt, oder dem Krebs streitig machen, der das Gesicht zerfrißt, dann wählt der Weise den richtigen Augenblick, verabschiedet die Quacksalber und sagt seinen Freunden, die er durch seine Gegenwart traurig macht, ein letztes Lebewohl. Und was soll man tun, wenn man in die Gewalt des Tyrannen geraten ist, den man mit den Waffen in der Hand bekämpft hat? Die Unterwerfungsurkunde ist ausgefertigt worden, man braucht sie nur noch zu unterschreiben oder den Hals hinzuhalten: der dumme Tropf hält den Hals hin, der Feigling unterzeichnet, der Weise endigt mit einem letzten Freiheitsakt, er ersticht sich. ›Freie Menschen,‹ rief damals der Stoiker, ›wißt euch frei zu erhalten! Frei von euren Leidenschaften, indem ihr sie den Pflichten opfert; frei von euresgleichen, indem ihr ihnen das Eisen oder Gift zeigt, die euch ihren Verfolgungen entziehen; frei vom Schicksal, indem ihr den Punkt festsetzt, über den hinaus ihr ihm keine Möglichkeit laßt, auf euch einzuwirken; frei von den Vorurteilen, indem ihr sie nicht mit den Pflichten verwechselt, frei von allen animalischen Besorgnissen, indem ihr den groben Instinkt, der so viele Unglückliche ans Leben fesselt, zu überwinden wißt.‹ Nachdem ich diese Argumentation von dem philosophischen Wortschwall der Alten befreit hatte, glaubte ich ihr eine christliche Form zu geben, wenn ich sie durch die Gesetze des freien Willens verstärkte, den Gott uns verliehen hat, damit er eines Tages vor seinem Richtstuhle uns richten könne, und sagte mir: ›Dort will ich mich verteidigen!‹ Solche Sätze, mein Herr, zwangen mich aber an den Tag nach meinem Tode zu denken, und ich fand mich in Zwiespalt mit meinem erschütterten früheren Glauben. Alles wird dann schwer im Menschenleben, wenn die Ewigkeit auf den einfachsten unserer Entschließungen lastet. Wenn diese Idee mit ihrer ganzen Wucht auf eines Menschen Seele wirkt, und ihn in sich irgend etwas Ungeheures fühlen läßt, das ihn in Zusammenhang mit dem Unendlichen bringt, ändern sich die Dinge merkwürdig. Von diesem Gesichtspunkte aus ist das Leben recht groß und recht klein. Das Gefühl meiner Fehler ließ nicht an den Himmel denken, solange ich Hoffnungen auf die Erde setzte, solange ich Linderung für meine Leiden in einigen sozialen Beschäftigungen fand. Lieben, sich dem Glück einer Frau widmen, Familienhaupt sein, hieß das nicht jenem Bedürfnis, meine Fehler zu sühnen, das in mir keimte, edle Nahrung reichen? War es nicht
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