Der Landarzt (German Edition)
Die Welt schrieb mir also Laster, Eigenschaften, Siege und Mißgeschick zu, die ich nicht hatte; sie dichtete mir galante Erfolge an, von denen ich nichts wußte; sie tadelte mich für Handlungen, mit denen ich nichts zu tun hatte. Aus Stolz verschmähte ich es, Verleumdungen Lügen zu strafen, und nahm aus Selbstgefälligkeit üble Nachreden hin, die mir schmeichelten. Dem Anscheine nach war mein Leben glücklich, in Wirklichkeit kläglich. Ohne die Unglücksfälle, die bald über mich hereinbrachen, hätte ich meine guten Eigenschaften nach und nach verloren und die schlechten durch das ständige Spiel mit den Leidenschaften, durch den Mißbrauch der Genüsse, welche den Körper entnerven, und durch die abscheulichen Gewohnheiten des Egoismus, welche die seelilischen Spannkräfte abnutzen, triumphieren lassen. Ich ruinierte mich. Und zwar auf folgende Weise: Wie groß eines Menschen Vermögen auch sein mag, in Paris stößt er immer auf ein noch größeres, das er zu seinem Zielpunkt macht und das er übertreffen will. Wie so viele Leichtfüße war ich ein Opfer dieses Kampfes und sah mich am Ende von vier Jahren genötigt, einige Besitzungen zu verkaufen und die anderen mit Hypotheken zu belasten. Da sollte mich ein furchtbarer Schlag treffen: Seit zwei Jahren hatte ich die Person, die ich verlassen, nicht gesehen; doch wenn es so weitergegangen wäre, würde mich das Unglück zweifelsohne zu ihr zurückgeführt haben. Eines Abends erhielt ich inmitten einer lustigen Gesellschaft ein mit kraftloser Hand geschriebenes Billett, das etwa folgende Worte enthielt: ›Ich habe nur noch einige Augenblicke zu leben, mein Freund, ich möchte Sie sehen, um das Schicksal meines Kindes kennenzulernen, um zu wissen, ob es das Ihrige sein wird, auch um die Schmerzen zu mildern, die Sie eines Tages über meinen Tod empfinden könnten.‹
Dieser Brief machte mich zu Eis erstarren; er enthüllte die geheimen Schmerzen der Vergangenheit, wie er die Geheimnisse der Zukunft in sich schloß. Ich ging zu Fuß fort, ohne auf meinen Wagen zu warten, und durchquerte ganz Paris, von meinen Gewissensbissen getrieben, von der Heftigkeit eines ersten Gefühls überwältigt, das von Dauer wurde, sobald ich mein Opfer sah. Die Sauberkeit, unter der sich das Elend dieser Frau verbarg, malte die Aengste ihres Lebens: sie ersparte mir die Scham darüber, indem sie mir mit edler Zurückhaltung davon sprach, als ich feierlich versprochen hatte, unser Kind zu adoptieren. Diese Frau starb, mein Herr, trotz der Sorge, mit der ich sie überhäufte, trotz aller Hilfsmittel der Wissenschaft, die ich vergebens anrief. Diese Sorge, diese späte Aufopferung dienten nur dazu, ihre letzten Augenblicke weniger bitter zu machen. Sie hatte unaufhörlich gearbeitet, um ihr Kind aufzuziehen und zu ernähren. Das mütterliche Gefühl hatte sie wohl dem Unglück, nicht aber ihrem lebhaftesten Kummer gegenüber: von mir verlassen zu sein, gefühllos gemacht. Hundertmal hatte sie einen Schritt bei mir unternehmen wollen, hundertmal hatte ihr Frauenstolz sie davon zurückgehalten; sie begnügte sich mit Weinen, ohne mich zu verfluchen, indem sie daran dachte, daß von dem für meine Launen von mir mit vollen Händen verausgabtem Golde auf dem Wege der Erinnerung nicht ein Tröpfchen in ihren armen Haushalt flösse, um das Leben einer Mutter und ihres Kindes zu erleichtern. Dies große Unglück war ihr wie die natürliche Strafe ihres Fehltritts vorgekommen. Von einem guten Priester von Saint-Sulpice, dessen nachsichtige Stimme ihr die Ruhe wiedergegeben hatte, unterstützt, war sie dahin gelangt, ihre Tränen unter dem Schutze der Altäre zu trocknen und dort Hoffnungen zu suchen. Die in Strömen von mir in ihr Herz gegossene Bitterkeit hatte sich unmerklich gemildert. Als sie eines Tages ihren Sohn ›Mein Vater‹ sagen hörte, Worte, die sie ihm nicht beigebracht, verzieh sie mir mein Verbrechen. Durch die Tränen und Schmerzen aber, durch die Arbeiten bei Tag und Nacht, hatte sich ihre Gesundheit geschwächt. Zu spät brachte ihr die Religion ihre Tröstungen und den Mut, des Lebens Uebel zu ertragen. Sie war von einem Herzleiden befallen worden, das ihre Aengste und das ewige Warten auf meine Rückkehr – eine ewig wiederkehrende, obwohl immer getäuschte Hoffnung – verursacht hatten. Als sie sich schließlich schlechter fühlte, hatte sie mir von ihrem Sterbelager aus jene wenigen, der Vorwürfe baren und von der Religiosität, aber auch von ihrem Glauben an
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