Der lange dunkle Fünfuhrtee der Seele
die von ihm ausging, die eines sehr gelassenen, sehr freundlichen, alles besitzenden Menschen.
Es war das eine Auge, von dem dies ausging. Alles, worauf es ruhte, ob es die Aussicht durchs Fenster war oder die Schwester, die die Tür aufhielt, so daß das Rollbett sich ungehindert durchbewegen konnte, oder Mr. Standish, der plötzlich ganz devoter Charme und Ehrerbietung war, alles schien im selben Augenblick dem Reich einverleibt zu sein, das von diesem Auge regiert wurde.
Kate überlegte einen Moment, wie es kam, daß Augen so eine immense Menge an Informationen über ihre Besitzer vermittelten. Sie waren doch schließlich bloß Bälle aus weißem Gallert. Sie veränderten sich beim Älterwerden kaum, nur daß sie etwas röter und etwas triefiger wurden. Die Iris öffnete und schloß sich ein bißchen, aber das war alles. Woher kam diese ganze Flut an Informationen? Besonders im Falle eines alten Mannes mit nur einem Auge und lediglich einem aufgenähten Hautlappen anstelle des anderen.
Sie wurde in ihrem Gedankengang dadurch unterbrochen, daß sich in diesem Moment das fragliche Auge von Standish löste und auf sie richtete. Die Gewalt, die es ausstrahlte, war so erschreckend, daß Kate fast aufschrie.
Mit der zartesten aller matten Bewegungen gab der alte Mann dem Pfleger, der das Rollbett schob, ein Zeichen anzuhalten. Das Bett blieb stehen, und als das Geräusch seiner rollenden Räder verstummt war, hörte man einen Moment lang kein anderes Geräusch als das ferne Brummen eines Fahrstuhls.
Dann hielt der Fahrstuhl.
Kate erwiderte seinen Blick mit einem kleinen, lächelnden Stirnrunzeln, als wolle sie sagen: »Entschuldigung, kenne ich Sie?«, und dann überlegte sie, ob es nicht tatsächlich der Fall sei. Sein Gesicht hatte etwas flüchtig Bekanntes, aber sie konnte es nicht richtig unterbringen. Mit Staunen bemerkte sie, daß, obgleich es nur ein Rollbett war, in dem er lag, das Bettzeug, auf dem seine Hände ruhten, echtes Linnen war, frisch gewaschen und gebügelt.
Mr. Standish hüstelte leicht und sagte: »Miss, äh, das ist einer unserer geschätztesten und, äh, verehrtesten Patienten, Mr. -«
»Haben Sie's auch ganz bequem, Mr. Odwin?« ging die Oberschwester hilfreich dazwischen. Aber das war nicht nötig. Das hier war ein Patient, dessen Name Standish ganz sicher wußte.
Odwin brachte sie mit der allerleisesten Handbewegung zum Schweigen.
»Mr. Odwin«, sagte Standish, »das hier ist Miss, äh -«
Kate wollte sich gerade noch einmal vorstellen, als sie plötzlich vollkommen überrumpelt wurde.
»Ich weiß ganz genau, wer sie ist«, sagte Odin ruhig, aber deutlich, und in sein Auge trat für einen Moment ein Blick, als schaue ein Insektenspray bedeutungsvoll auf eine Wespe.
Sie versuchte, sich sehr förmlich und britisch zu geben.
»Ich fürchte«, sagte sie steif, »Sie sind mir da um einiges voraus.«
»Ja«, sagte Odin.
Er gab dem Pfleger einen Wink, und zusammen nahmen sie ihre gemütliche Fahrt den Korridor entlang wieder auf. Blicke wurden zwischen Standish und der Oberschwester gewechselt, und dann bemerkte Kate verblüfft, daß noch jemand bei ihnen in dem Gang stand.
Er war vermutlich nicht durch Zauberkraft dorthingekommen. Er war nur stehengeblieben, als das Rollbett weiterfuhr, und seine Körpergröße oder vielmehr ihr Fehlen war derart, daß er bis jetzt einfach hinter dem Bett verborgen geblieben war.
Alles war viel besser gewesen, als er noch verborgen war.
Es gibt Leute, die mag man spontan, andere, von denen denkt man, daß man mit der Zeit lernen wird, sie zu mögen, und wieder andere, die möchte man einfach mit einem harten Knüppel von sich wegprügeln. Es war sofort klar, in welche Kategorie für Kate die Erscheinung von Hader Lump fiel. Er grinste und starrte sie an, oder vielmehr, er schien auf irgendeine unsichtbare Fliege zu starren, die um ihren Kopf herumsauste.
Er lief auf sie zu, und ehe sie ihn daran hindern konnte, ergriff er ihre rechte Hand und schüttelte sie heftig.
»Auch ich bin Ihnen um einiges voraus, Miss Schechter«, sagte er und hüpfte ausgelassen davon, den Korridor hinunter.
KAPITEL 12
Der große, gefährlich wirkende graue Lieferwagen bewegte sich zügig die Auffahrt hinunter, kam durch die steinernen Tore heraus und neigte sich gelassen zur Seite, als er vom Kies auf den Asphalt der öffentlichen Straße einbog. Die Straße war eine windige Landstraße mit den winterlichen Silhouetten kahler Eichen und toter Ulmen. Graue Wolken
Weitere Kostenlose Bücher