Der lange dunkle Fünfuhrtee der Seele
sie an der ersten Straßenlaterne vorbeikam, flackerte die und erlosch und ließ sie in einem kleinen dunklen Fleck zurück.
So etwas erschreckt einen immer ganz ekelhaft.
Es heißt, es sei nichts Erstaunliches an der Vorstellung, daß zum Beispiel jemand plötzlich an jemand anderen denkt, an den er jahrelang nicht gedacht hat, und dann am nächsten Tag erfährt, daß dieser Mensch gerade gestorben ist. Es gibt zu jeder Zeit massenhaft Leute, die sich plötzlich an Leute erinnern, an die sie Ewigkeiten nicht gedacht haben, und zu jeder Zeit sterben Leute massenhaft. Bei einer Bevölkerung von der Größe, sagen wir mal, Amerikas, besagt das Gesetz der Wahrscheinlichkeit, daß dieser spezielle Zufall bestimmt mindestens zehnmal pro Tag eintritt, trotzdem ist jedem Menschen unheimlich, wenn er ihn erlebt.
Nach demselben Muster brennen ständig Birnen in Straßenlaternen durch, und nicht wenige knallen sicher gerade in dem Moment durch, wenn jemand darunter vorbeigeht. Dennoch kriegt die betreffende Person einen ekelhaften Schrecken, besonders wenn die nächste Straßenlaterne, unter der sie durchgeht, genau dasselbe macht.
Kate blieb wie angewurzelt stehen.
Wenn ein Zufall eintreten kann, sagte sie sich, dann kann auch ein zweiter Zufall eintreten. Und wenn ein zweiter Zufall zufällig gleich nach einem ersten Zufall eintritt, dann ist das eben Zufall. Es bestand absolut kein Anlaß zur Beunruhigung, weil ein paar Straßenlaternen durchknallten. Sie befand sich in einer völlig normalen, freundlichen Straße mit Häusern um sie herum, in denen Lichter brannten. Sie sah hinauf zu dem Haus neben ihr, leider genau in dem Moment, als zufällig die Lichter in den vorderen Fenstern ausgingen. Das lag wahrscheinlich daran, daß die Bewohner zufällig diesen Moment gewählt hatten, um aus dem Zimmer zu gehen, und obwohl dadurch lediglich bewiesen wurde, was für eine wirklich ungewöhnliche Sache ein Zufall sein kann, half das wenig, ihre innere Verfassung zu verbessern.
Der Rest der Straße war noch immer in mattgelbes Licht getaucht. Es waren nur die wenigen Schritte um sie herum, die plötzlich dunkel waren. Der nächste Lichtfleck lag nur wenige Meter vor ihr. Sie holte tief Luft, nahm allen Mut zusammen und ging darauf zu; sie erreichte seine genaue Mitte exakt in dem Moment, als auch er erlosch.
Die Bewohner der beiden Häuser, an denen sie dabei vorbeikam, suchten sich zufällig ebenfalls diesen Moment aus, um ihre Vorderräume zu verlassen, desgleichen ihre Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Vielleicht war gerade eine beliebte Fernsehsendung zu Ende. Das war's. Alle standen auf und knipsten zur gleichen Zeit ihre Fernseher und Lampen aus, und der daraus resultierende Spannungsstoß ließ ein paar von den Straßenlaternen durchknallen. So was Ähnliches. Der daraus resultierende Spannungsstoß brachte auch ihr Blut ein bißchen in Wallung. Sie ging weiter und versuchte, ruhig zu bleiben. Wenn sie zu Hause wäre, würde sie einen Blick in die Zeitung werfen, um zu sehen, welche Sendung die Straßenlampen hatte durchbrennen lassen. Vier.
Sie blieb absolut regungslos unter der dunklen Lampe stehen. In noch mehr Häusern ging das Licht aus. Was sie besonders beängstigend fand, war, daß in ihnen das Licht genau in dem Moment ausging, in dem sie hinguckte.
Blick - paff!
Sie probierte es noch mal.
Blick - paff!
Jedes Haus, das sie ansah, wurde sofort dunkel.
Blick - paff!
Ihr wurde mit einem jähen Schrecken klar, daß sie die nicht ansehen dürfe, die noch erleuchtet waren. Die logischen Erklärungen, die sie sich versuchsweise zurechtgelegt hatte, rannten nun schreiend in ihrem Kopf herum und verlangten rausgelassen zu werden, und sie ließ sie ziehen. Sie versuchte, den Blick fest an den Boden zu heften, aus Angst, die ganze Straße auszulöschen, konnte sich aber kleine Seitenblicke nicht verkneifen, um zu sehen, ob es auch funktionierte.
Blick - paff!
Sie hielt den Blick starr nach unten auf den schmalen Pfad nach vorn gerichtet. Der größte Teil der Straße lag jetzt im Dunkeln.
Drei Straßenlampen brannten noch zwischen ihr und der Haustür, die zu ihrer Wohnung führte. Sie hielt den Blick zwar abgewendet, aber sie meinte am Rande ihres Blickfeldes erkennen zu können, daß die Lichter in der Wohnung unter ihrer brannten.
Dort wohnte Neil. Sie konnte sich an seinen Nachnamen nicht erinnern, aber er arbeitete halbtags als Baßgitarrist und Antiquitätenhändler, gab ihr ständig
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