Der lange Schatten
Geisel wissen denn aus reinem Kalkül. Er brauchte Material für seinen Roman, und die anderen Geiseln interessierten ihn nur noch im Hinblick darauf. Zu seinem Pech überhörte der SEK-Mann jedoch seine Frage und wechselte das Thema.
»Wir haben hier vor Ort auch eine psychologische Betreuung«, sagte er. »Das sind Spezialisten, die haben Erfahrung mit Geiselnahmen und traumatisierten Opfern.«
»Ich bin nicht traumatisiert, Capitaine.«
Der SEK-Mann nickte. »Ja, mag sein, dass Sie das im Moment so empfinden. Aber das, was Sie erlebt haben, kann heftige Nachwirkungen haben. Die kommen meistens mit Verzögerung, und da wäre es gut, wenn Sie vorbeugen.«
»Danke, aber das ist wirklich überflüssig. Ich möchte so schnell wie möglich nach Hause. Ich muss arbeiten.«
»Arbeiten? Überschätzen Sie da nicht Ihre Kräfte, Monsieur? Ich an Ihrer Stelle …«
Christian unterbrach ihn und grinste. »Sie sind aber nicht an meiner Stelle, Monsieur. Wenn Sie noch Fragen haben, wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen können. Ach, und noch was: Zahlt die Bank uns Opfern eigentlich eine Entschädigung? Die müssten doch für solche Fälle versichert sein.«
»Klären Sie das bitte direkt mit der Bank.«
»Das mach ich.«
Er gab dem Polizisten die Hand und verließ den Wagen. Immer noch war der Straßenabschnitt abgesperrt. Christian sah, wie Mitglieder eines Spurensicherungsteams die Bank betraten und wieder verließen. Einer der Krankenwagen, die in der Nähe der Bank standen, fuhr gerade mit Blaulicht und Sirene davon. Von einer Sanitäterin erfuhr Christian, dass der bärtige Mann, der während der Geiselnahme schräg vor ihm auf dem Boden gelegen hatte, zusammengebrochen war.
»Und die alte Frau?«, wollte Christian wissen.
»So alt ist sie gar nicht«, erwiderte die Sanitäterin und legte den Kopf schief. »Gerade mal Ende fünfzig. Der Arzt möchte sie noch einen Moment dabehalten, aber eigentlich will sie sofort nach Hause. Genau wie Sie.«
Voller Elan machte sich Christian auf den Weg zu seiner Wohnung. Der Thailänder an der Ecke hatte um diese Zeit schon geschlossen. Doch unterwegs gab es einen Schnellimbiss, und mit einem Croque Monsieur oder Hotdog konnte Christian sich genauso gut stärken.
Zu Hause, in seinem Arbeitszimmer, gab es zwar keinen Ausblick auf ein Stück dunkelblauen Himmel mit vorbeifliegenden Tauben wie in seiner Selbsthypnose. Doch es gab einen Laptop. Und der wartete darauf, dass Christian den ersten Satz seines neuen Krimis schrieb. »Das kalte Licht über der Stadt«. Schon der Titel schien so vielversprechend, dass Christian es kaum abwarten konnte, sich in die Arbeit zu stürzen.
ZWEITER TEIL
12. KAPITEL
Ich hab alles gesehen.« Der Mann rieb sich mit der Hand über das unrasierte Kinn. LaBréa bemerkte die schmutzigen Fingernägel und roch seine Ausdünstungen, ein Gemisch aus Schnapsfahne, Schweiß und ungelüfteten Kleidern. Er mochte Mitte bis Ende fünfzig sein. Das teigige Gesicht und die verquollenen, glasigen Augen ließen darauf schließen, dass dieser Mann vermutlich ein Alkoholproblem hatte. Er hieß François Odilon, und seine Wohnung befand sich in der Rue Mendelssohn. Von dort aus hatte er das Geschehen auf der Straße beobachten können. Jetzt stand François Odilon mit LaBréa in der Nähe des zurückgelassenen Fluchtfahrzeugs, das von den Technikern der Spurensicherung untersucht wurde. Der Regen hatte nachgelassen, und ein kalter Wind war aufgekommen. Odilons verfetteter Hund, eine undefinierbare Promenadenmischung, ließ seine Blicke zwischen LaBréa und seinem Herrchen hin und her schweifen, als verfolgte er aufmerksam deren Gespräch.
»Standen Sie zufällig am Fenster, oder hatten Sie ein Geräusch auf der Straße gehört?«, wollte LaBréa wissen.
»Ich hab gehört, dass ein Wagen angefahren kam. In unserer Straße ist kaum Verkehr, deshalb fiel’s mir auf.«
»Und da wurden Sie neugierig.«
»Neugierig nicht direkt.« François Odilon schniefte und zog an seinen Pullover, der sich viel zu eng über seinem stattlichen Bauch spannte. »Aber hier in der Straße ist selten was los. Da will man dann schon sehen, was draußen läuft.«
»Verstehe, Monsieur.« Nur mit Mühe zügelte LaBréa seine Ungeduld. »Erzählen Sie der Reihe nach, was los war. Aber möglichst kurz und knapp.«
»Also, erst mal hab ich mich gewundert, dass die alte Kiste immer noch hier steht.«
»Sie meinen den Peugeot.«
»Genau. Ihren Kollegen hab ich vorhin erzählt, um
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