Der lange Schatten
wie Wasser von einer öligen Fläche. Sie erkannte Form und Farbe von Mamans Augen, doch was sie ausstrahlten, erreichte Marguerite nicht mehr. Sie hatte sich aus der Umklammerung dieses Blickes gelöst und so die Fesseln ihrer Seele gesprengt. Fesseln, die weit schlimmer gewesen waren als die, die der Geiselnehmer ihr angelegt hatte. Diese Erkenntnis traf sie mit voller Wucht und löste ein überwältigendes Gefühl von Freiheit in ihr aus. In diesem Moment, aus einer tödlichen Situation gerettet und in der Obhut eines Arztes, fiel das alte Leben von Marguerite ab wie eine überflüssige Haut, derer man sich entledigt, wenn man sie nicht mehr braucht.
Jetzt beugte sich ein Mann in den Krankenwagen.
»Ich bin Capitaine Leconte«, sagte er. »Wie fühlen Sie sich, Madame Brancard?«
»Danke, es geht schon wieder, Monsieur.« Ihre Stimme klang noch schwach, doch ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Ich kann vorläufig auf Ihre Aussage verzichten. Von den anderen, die mit Ihnen in der Bank waren, habe ich schon alles Wichtige erfahren. Sie können aber mit unserer Psychologin reden, falls Sie das möchten. Wenn Sie wollen, dürfen Sie auch gleich nach Hause gehen. Ihre Personalien haben wir ja.«
Marguerite nickte. »Ich möchte lieber nach Hause gehen.«
»Ruhen Sie sich erst noch eine halbe Stunde hier aus«, meinte der Arzt. »Sie stehen unter Schock, auch wenn Ihnen das selbst nicht so bewusst ist. Und wenn Sie dann gehen, sollte Sie jemand begleiten. Haben Sie Angehörige?«
Marguerite nickte vage, lenkte aber gleich ab. »Ich hätte eine Frage, Docteur. Wer kann mir sagen, wie man ein gutes Pflegeheim findet?«
»Ein Pflegeheim?« Der Arzt tauschte einen erstaunten Blick mit dem Polizisten. »Sie wollen in ein Pflegeheim?«
»Nein, ich nicht!« Sie räusperte sich. »Eine Angehörige. Ich müsste mich da mit jemandem beraten.«
»Normalerweise geben die Krankenkassen darüber Auskunft. Da sagt man Ihnen auch, welche Kosten übernommen werden.«
Marguerite nickte. Nachher, wenn sie zu Hause für Maman das Mittagessen zubereitet hatte, würde sie sich mit dem Telefon in die Küche zurückziehen und die Krankenkasse anrufen. Maman war gut versichert. Jetzt galt es, einen Heimplatz für sie zu finden und ein neues Leben zu beginnen. Dass sie die Kraft dazu haben würde, dessen war sich Marguerite Brancard sicher.
Der Blumenhändler Guy Thinot hatte sich noch nie in seinem Leben so kraftlos und schwach gefühlt. Als die Polizei ihn von seinen Fesseln befreite, überwältigte ihn zunächst die Erleichterung darüber, dass er noch am Leben war. Körperlich jedoch empfand er seinen Zustand als bedenklich. Abgesehen von den Scheuerwunden an den Handgelenken und den starken Verkrampfungen im Nacken- und Rückenbereich quälten ihn unerträgliche Kopfschmerzen, Schwindel und Sehstörungen. Seine Schläfen pochten, und sein rechtes Bein zeigte Lähmungserscheinungen. Er erinnerte sich an die Warnung seines Arztes: Wenn diese Anzeichen auftreten, müssen Sie sofort in ein Krankenhaus! Er schilderte den Sanitätern, die ihn aus der Bank führten, seine Beschwerden und gab ihnen Name und Adresse seiner Frau. Dann, noch bevor er den Krankenwagen erreichte, brach er plötzlich zusammen. Nach einer raschen Notversorgung wurde er mit Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus St. Antoine gebracht. Ein Ärzteteam bemühte sich, sein Leben zu retten. Umsonst. Eine Stunde später starb Guy Thinot an akutem Herzversagen.
Nachdem der Notarzt seine Handgelenke behandelt und verbunden hatte, war Christian Chatel vom Leiter des SEK in eines der Polizeifahrzeuge gebeten und nach den Geschehnissen in der Bank befragt worden. Christian erinnerte sich an viele Details und gab eine genaue Beschreibung des Geiselnehmers. Er schilderte, wie der Banküberfall abgelaufen war und was sich zugetragen hatte, bevor der Maskierte mit der dunkelhaarigen Frau die Bank verlassen hatte.
»Hat er irgendwas gesagt, aus dem man schließen könnte, wohin er wollte?«, fragte Capitaine Leconte ihn.
»Nein, nichts dergleichen. Zuerst wollte er wissen, ob die Frau den Führerschein hat. Dann hat er ihr die Fesseln aufgeschnitten und ihr eine Flasche Volvic gegeben, aus der sie getrunken hat. Sie durfte sich kurz ausruhen, weil sie total schwach auf den Beinen war. Dann ist er mit ihr raus.« Christian neigte sich vor. »Haben Sie den Kerl inzwischen gestellt? Ist die Frau in Sicherheit?«
Christian wollte das weniger aus Besorgnis um die
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