Der lange Schatten
LaBréa musste unwillkürlich lächeln. Doch schnell holte ihn die Wirklichkeit wieder ein. Wenn Celine etwas passierte, war Jenny der einzige Mensch, der ihm noch blieb …
Er erzählte seiner Tochter nicht, was geschehen war. Jenny hatte im letzten Winter selbst eine Geiselnahme erlebt. Er wollte nicht die Erinnerung daran aufleben lassen, indem er sie mit der Sorge um Céline belastete. Er bat sie nur, nach der Party mit ihrer Freundin Alissa in die Brûlerie zu gehen und dort die Nacht zu verbringen, weil er selbst in einem schwierigen Fall ermittelte und vorerst nicht nach Hause käme. Jenny willigte gut gelaunt ein. Ihre Schulsachen würde sie dann rechtzeitig morgen früh aus der Wohnung holen. Zum Glück fragte das Mädchen nicht nach Céline, und so brauchte LaBréa sie auch nicht anzulügen.
Im Anschluss an das Gespräch wählte er die Nummer von Francine Dalzon, Alissas Mutter. Er informierte sie kurz über die Geschehnisse. Francine war bestürzt.
»O mein Gott! Hoffentlich geht alles gut aus, Commissaire! Natürlich kann Jenny heute Nacht bei uns bleiben«, versicherte sie. »Und Sie dürfen sich darauf verlassen, dass ich ihr nichts erzähle.«
»Danke, Madame Dalzon.«
Der BMW fuhr gerade über die Rue du Faubourg Saint Antoine Richtung Bastille. Es herrschte dichter Verkehr, und der Wagen kam nur langsam voran. LaBréa wählte noch einmal die Nummer von Capitaine Leconte.
»Noch keine Neuigkeiten, LaBréa. Wir tun alles, was wir können. Und Sie sind der Erste, den ich anrufe, wenn es eine Spur gibt.«
Sie fuhren auf dem Périphérique Richtung Norden. Der Verkehr war so dicht, dass Céline nicht schneller als die vorgeschriebenen achtzig Stundenkilometer fahren konnte, auch wenn der Geiselnehmer sie ständig antrieb, aufs Gaspedal zu drücken. Abgesehen vom hohen Verkehrsaufkommen hätte man aus diesem alten Peugeot ohnehin nicht viel mehr herausholen können.
Nachdem der Geiselnehmer Céline gezwungen hatte, sich hinters Steuer dieses neuen Fluchtautos zu setzen, war sie zunächst erleichtert darüber gewesen, dass er sie nicht erschossen hatte. Aus irgendeinem Grund schien er sie noch zu brauchen, sonst hätte er sie in dieser kleinen Straße zurückgelassen, tot oder lebendig. Oder hatte er etwas anderes vor? War er nicht nur ein eiskalter Mörder, sondern auch ein Sexualverbrecher? Céline wollte sich nicht vorstellen, was das für sie bedeuten mochte. Sie war schwanger, befand sich seit dem Banküberfall in einer psychischen Ausnahmesituation und war diesem Mann körperlich weit unterlegen. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass er eine Waffe besaß.
Rasch schob sie diesen Gedanken beiseite. Sie durfte die Hoffnung nicht verlieren! Die Hoffnung stirbt zuletzt … Wie banal hatte Céline diesen Satz stets gefunden! Jetzt klammerte sie sich daran wie eine Ertrinkende. Nicht aufgeben, nicht die Nerven verlieren, sonst würde sie untergehen.
Als Erstes hatte sie beim Wegfahren aus der Rue Mendelsson den Zeiger der Benzinuhr gecheckt. Der Tank war voll. Mit einem vollen Tank konnte ein solcher Wagen mindestens vierhundert Kilometer fahren. Sie mussten nicht anhalten, und Célines Chancen, eine passende Gelegenheit zur Flucht zu suchen, waren vorerst zunichte gemacht. Inzwischen hatte die Polizei wahrscheinlich schon das grüne Fluchtauto aufgespürt und möglicherweise bereits eine Großfahndung nach dem dunkelblauen Peugeot eingeleitet. Wahrscheinlich wurden an allen Hauptverkehrsstraßen Straßensperren errichtet und jeder Wagen kontrolliert. Zu den Hauptverkehrsstraßen gehörte auch der Périphérique. Wie würde der Geiselnehmer reagieren, wenn die Polizei den Wagen anhielt?
Schon nach wenigen Kilometern befahl der Mann Céline, die Stadtautobahn an der Porte des Lilas zu verlassen. Von dort aus erreichten sie wenig später eine Sackgasse, die zu einem verlassenen Gelände führte. Dort ragten einige halb fertige Betonrohbauten auf. Die Arbeit an diesen Gebäuden war entweder unterbrochen oder ganz eingestellt worden. Keine Menschenseele war zu sehen. Etwas abseits, gut getarnt hinter Bäumen und wild wucherndem Buschwerk, stand ein alter Bauwagen. Der Geiselnehmer befahl Céline, das Auto zwischen den Büschen zu parken. Von der Sackgasse her konnte man weder den Bauwagen noch den Peugeot erkennen.
Céline war klar, dass sie angekommen waren. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Was würde mit ihr geschehen? Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Bauch. O mein Gott,
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