Der lange Schatten
Von links kam ein Wagen, doch der Mann auf dem Beifahrersitz befahl: »Gib Gas, das schaffst du noch! Von rechts ist frei!«
Céline drückte aufs Gaspedal, und der Wagen schoss wie ein Pfeil über die Straße, gerade noch rechtzeitig, bevor der von links kommende Lieferwagen mit ihnen zusammenstoßen konnte. Im Rückspiegel sah Céline, dass der Lieferwagen stark bremste und auf der regennassen Straße ausbrach. Sie hörte das wütende Hupen des Fahrers, doch schon nach wenigen Metern war sie in der Rue d’Avron. Kurz darauf befahl der Mann Céline, erneut abzubiegen. Sie befanden sich jetzt in einem Gewirr kleiner Straßen.
Wieder richtete sie das Wort an den Geiselnehmer.
»Soll ich nicht lieber langsamer fahren? Das hier ist Wohngebiet, und die Straßen sind eng. Wenn ich einen Unfall baue …«
Der Mann unterbrach sie brüsk.
»Wenn du einen Unfall baust und wir nicht weiterkönnen, knall ich dich ab. Kapiert?« Es klang wieder schärfer, doch Céline entschloss sich dennoch zu einer Antwort.
»Aber wenn ich hier wie eine Wahnsinnige durchrase, fällt das doch auf! Jemand könnte sich die Nummer merken und die Polizei alarmieren. Das wollen Sie doch nicht, oder?«
Der Geiselnehmer schien kurz zu überlegen.
»Meinetwegen. Fahr etwas langsamer. Obwohl ich glaube …« Er beendete den Satz nicht und trommelte nervös mit den Fingern der rechten Hand auf seinen Oberschenkel. Mit der Linken hielt er weiterhin die Waffe auf Céline gerichtet. »Meinst du etwa, ich traue den Bullen?«
Céline stieg auf die Bremse, bis der Tacho Tempo sechzig anzeigte. Wenig später bogen sie in die Rue Mendelssohn ein, eine ruhige Straße mit wenigen Häusern. Bei dem Wetter waren keine Fußgänger unterwegs; auch Autos fuhren hier nicht.
»Da vorn, halt da mal an!«, sagte der Geiselnehmer jetzt wie elektrisiert. »Gleich hinter dem dunkelblauen Wagen!«
Sie bremste und brachte das Fluchtfahrzeug hinter dem blauen Wagen zum Stehen. Es war ein älterer Peugeot, Modell 203, der einzige Wagen auf dieser Straßenseite.
»Stell den Motor ab, und gib mir den Schlüssel.«
Céline tat, wie ihr geheißen. Als der Mann den Schlüssel nahm und die Beifahrertür öffnete, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Wollte er jetzt aussteigen? Würde er sie hier zurücklassen, und sie wäre gerettet? Oder würde er sie töten und seine Flucht allein fortsetzen?
Er zielte mit der Waffe genau auf ihren Kopf. Céline schloss die Augen. Es war zu spät. All ihre Anstrengungen waren umsonst gewesen! Ihre mühsam errungene Kraft und Kaltblütigkeit – alles vergeblich. Sie würde hier und jetzt sterben. Wenn es nur schnell geht, dachte sie und hielt unwillkürlich den Atem an.
Marguerite Brancard lag in einem der Krankenwagen. Sie konnte kaum glauben, dass der Albtraum in der Bank beendet war und ein freundlicher junger Arzt beruhigend auf sie einredete, während er ihr ein Schmerzmittel spritzte. Ihre Handgelenke waren wundgescheuert, und der Arzt legte einen Salbenverband an.
Kurz nachdem der Geiselnehmer die Bank verlassen hatte, waren Polizisten und Sanitäter in den Schalterraum gestürmt und hatten ihr sofort die Fesseln aufgeschnitten. Marguerite wurde auf eine Trage gelegt und nach draußen gebracht. Das Erste, was sie dort wahrnahm, waren der heftige Regen und das düstere Licht, das über der Stadt lag. Die Luft roch feucht und herbstlich, in tiefen Zügen atmete Marguerite sie ein. Die Gewissheit, gerettet und am Leben zu sein, drängte für einen Moment die Schmerzen in ihrem Körper zurück. Ein intensives Glücksgefühl durchströmte Marguerite. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie je etwas Ähnliches empfunden hatte. Als sie einen der Sanitäter nach der Uhrzeit fragte, war es bereits halb drei. Zweieinhalb Stunden hatte sie sich in der Gewalt dieses Wahnsinnigen befunden. Und beinahe genauso lange wartete ihre Mutter zu Hause auf sie.
Maman … Wie von fern schob sich ihr Bild vor Marguerites Auge. Das schmale Gesicht der Mutter mit der grauen, schlaffen Haut und den steilen Falten, ihre gebogene Nase. Der meist verächtlich nach unten gezogene Mund, die Haare, die sich an vielen Stellen bereits lichteten. Die von der Krankheit gezeichneten, steifen Hände, übersät von Altersflecken. Auch ihren Blick, der sich in Marguerites Herz eingebrannt und über all die Jahrzehnte so viel Furcht in ihr ausgelöst hatte, sah Marguerite deutlich vor sich. Doch erstaunt stellte sie fest, dass dieser Blick plötzlich an ihr abglitt
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