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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra von Grote
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vorbei. Aus seinem Rucksack hatte er eine Flasche Wasser geholt und sie ihr auf den Schoß geworfen. In gierigen Zügen trank Céline, dankbar für diese Geste. Sie fühlte sich gestärkt, und der quälende Durst war endlich vorbei. Als er sie vor sich her zur Eingangstür schob und sie den Lauf seiner Pistole in ihrem Rücken spürte, überfiel sie seltsamerweise eine große Ruhe. Sie ging aufrecht und wunderte sich, dass ihr Körper ihr wieder gehorchte. All ihre Sinne waren aufs Höchste geschärft. Der Maskierte öffnete die schwere Eingangstür, legte seinen linken Arm um ihren Oberkörper und presste sie fest an sich. Mit der Rechten hielt er jetzt die Waffe an ihre rechte Schläfe. So gingen sie hinaus.
    Draußen regnete es heftig. Céline sah, dass der Fluchtwagen direkt vor dem Eingang geparkt war. In unmittelbarer Nähe befand sich kein Polizist. Wo waren die Scharfschützen? Céline wusste, dass ein gezielter Schuss auf den Mann sie selbst treffen konnte. Sie hoffte inständig, dass niemand den Befehl dazu gab. Wo befand sich Maurice? Ihr Blick irrte auf die andere Straßenseite, doch sie entdeckte LaBréa nicht. Der Wagen versperrte ihr die Sicht.
    Dann ging alles sehr schnell.
    »Los, mach die Tür auf!«, befahl der Geiselnehmer. Céline öffnete die Beifahrertür des Wagens. Der Mann stieß sie hinein. »Auf den Fahrersitz, na, mach schon!« Sie rutschte über die Mittelkonsole hinters Steuer. Der Mann nahm auf dem Beifahrersitz Platz, die Waffe weiterhin im Anschlag. »Der Motor läuft, fahr los! Aber mit Tempo! Fahr links auf den Boulevard und dann erst mal geradeaus.« Claudine wagte nicht, ihn anzusehen. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass er sich seiner Gesichtsmaske entledigt hatte. Sie wusste, was das bedeutete. Wenn er sie am Leben ließ, konnte sie später der Polizei eine Beschreibung geben. Würde er das riskieren? Céline schob den Gedanken sofort beiseite. Dafür war jetzt keine Zeit. Sie musste sich konzentrieren, hellwach sein. Zeit gewinnen, eine Chance suchen, heil aus der Situation herauszukommen. Überleben. Dazu brauchte sie ihren Verstand und eine gewisse Portion Kaltblütigkeit.
    Weder Céline noch der Geiselnehmer waren angeschnallt. Als sie mit Tempo hundert über den Boulevard Diderot Richtung Place de la Nation brauste und dabei auf Anweisung des Geiselnehmers mehrere rote Ampeln überfuhr, zog Céline eine plötzliche Vollbremsung in Erwägung. Während sie selbst darauf vorbereitet war, würde der Mann auf dem Beifahrersitz nach vorn geschleudert werden. Diesen Moment konnte sie nutzen, um das Fahrzeug zu verlassen … Doch die Waffe, die seit Beginn der Fahrt in Höhe ihrer Hüfte auf sie gerichtet war, brachte sie schnell von diesem Gedanken ab. Eine Vollbremsung, bei der er gegen die Windschutzscheibe knallte, würde ihn nicht daran hindern zu schießen, bevor sie den Wagen verlassen hätte.
    Céline blickte kurz nach rechts. Der Mann neben ihr hatte ein glatt rasiertes Gesicht und einen dunklen Teint. Jemand aus dem Süden, dachte Céline spontan. Er erschien ihr jung, viel jünger, als sie ihn unter der Gesichtsmaske eingeschätzt hatte. Sie startete einen ersten Versuch.
    »Wohin fahren wir überhaupt? Ich kenne die Gegend hier kaum.«
    Er drehte den Kopf in ihre Richtung.
    »Halt die Schnauze. Konzentrier dich lieber auf den Verkehr! Und geh bloß nicht runter mit dem Tempo! Wir sind gleich an der Place de la Nation. Fahr in den Kreisel rein, und ich sag dir dann, wo du abbiegst.«
    Seine Stimme klang nicht mehr ganz so aggressiv wie in der Bank. Erst jetzt fiel ihr auch sein südlicher Akzent auf. Wieso hatte sie das nicht früher bemerkt? Céline drosselte das Tempo ein wenig und fuhr dann zügig in den Kreisverkehr um den großen Platz.
    »Und jetzt?«, wollte sie wissen.
    »Die übernächste rechts rein.«
    Céline bog ab, ohne dass sie durch den dicht fallenden Regen das Straßenschild lesen konnte. Doch sie wusste, wo sie sich befand. In Wahrheit kannte sie nämlich die Gegend hier sehr gut. Gleich begann das 20. Arrondissement. In einer Seitenstraße des Boulevard Davout hatte Céline vor vielen Jahren, als sie nach Paris kam, einige Zeit gewohnt. Die Mieten dort waren damals billig, inzwischen belief sich der Quadratmeterpreis selbst in weniger attraktiven Arrondissements wie dem zwanzigsten auf bis zu fünfzehn Euro.
    Die Avenue führte auf den Boulevard de Charonne.
    »Fahr geradeaus, über den Boulevard rüber.«
    An der Kreuzung bremste Céline kurz.

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