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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra von Grote
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sollte. Sie war nicht unattraktiv, und er hatte seit einer Woche keine Frau gehabt. Das letzte Mal in dieser Klitsche an der Porte de Clignancourt. Zu teuer für das, was sie ihm geboten hatte. Niemand konnte ihn daran hindern, diese Tussi flachzulegen! Zumal sie ihn belogen hatte. Natürlich vögelte sie mit diesem LaBréa! Das hätte er schwören können. Eine pikante Vorstellung, sich die Tussi dieses Bullen vorzunehmen …
    Allerdings fühlte er sich seit dem frühen Abend sich leicht ermüdet und unkonzentriert. Die volle Power, die er noch am Nachmittag gespürt hatte, schien plötzlich verflogen. Früher, als er gedacht hatte. Dabei waren die zwölf Stunden noch nicht einmal vorbei! Im Bauwagen würde er zunächst versuchen, noch eine Stunde durchzuhalten. Und dann für Nachschub sorgen. Damit er hellwach wurde! In spätestens zwei Stunden würde er erneut mit diesem LaBréa Kontakt aufnehmen. Wenn er ihn nicht in seinem Büro erreichte, dann eben auf seinem Handy.
    Die Schritte seiner schweren Doc-Martens-Stiefel knirschten auf dem spärlichen Kiesbelag, den die Bauarbeiter seinerzeit rund um den Bauwagen gestreut hatten, weil das Gelände bei Regen matschig war. Noch wenige Meter bis zur Eingangstür. Freddy zog den Schlüssel aus der Hosentasche.
    Lange hatte sie mit vornübergebeugtem Körper auf der schmuddeligen Tischplatte gelegen. Irgendwann war sie so leer und kraftlos, dass ihr Weinen und Schluchzen immer leiser wurde und schließlich ganz verstummte. Um sie herum herrschte völlige Dunkelheit. Was würde geschehen, wenn ihr Peiniger zurückkam? Bis dahin musste sie etwas unternehmen. Das Wageninnere durchsuchen, vielleicht eine Waffe finden, um sich zu verteidigen, wenn sie in akute Gefahr geriet.
    Plötzlich setzte sie sich kerzengerade auf. Ihre Jacke! Sie hatte sie nicht abgelegt, seit sie am späten Vormittag die Praxis ihrer Gynäkologin verlassen hatte. Eine sportliche, hellblaue, wasserabweisende und gefütterte Mikrofaserjacke. Genau das Richtige bei diesem Herbstwetter. In der rechten Seitentasche verstaute sie immer ihr Handy. Der Geiselnehmer hatte es in der Bank entdeckt und ihr abgenommen. Doch die anderen Taschen hatte er nicht durchsucht. In der linken Seitentasche befanden sich Célines Hausschlüssel sowie ihr Portemonnaie mit Ausweis, Kreditkarten, Führerschein und dem Sonografiebild ihres ungeborenen Kindes. Sie legte es auf den Tisch. Dann tastete sie die Brusttaschen der Jacke ab. In der rechten fand sie, was sie suchte. Ein Kärtchen mit Streichhölzern. Wieso hatte sie nicht früher daran gedacht? Es war eine Marotte von ihr, eine feste Gewohnheit, stets ein Päckchen Streichhölzer bei sich zu tragen. Damals, als sie mit ihrem Bruder Florent im Keller des alten Weingutes gefangen war, hatte sie sich vorgenommen, nie wieder im Leben ohne Streichhölzer oder ein Feuerzeug das Haus zu verlassen. Seit jener Zeit war ihr das in Fleisch und Blut übergegangen. In ihren Mänteln, Jacken, Hosen und in allen Handtaschen befanden sich Streichhölzer oder Feuerzeuge. Vor einigen Jahren hatte sich das schon einmal ausgezahlt, als ein Métrozug im Tunnel stecken geblieben war. Das Licht war erloschen, Céline spürte Panik in sich aufsteigen und durchlebte in Sekundenschnelle wieder jene Situation aus ihrer Kindheit. Als sie dann ein Streichholz aufflammen ließ, fühlte sie eine große Erleichterung. Der Métrowagen war nur halb besetzt, und die Tatsache, dass sie im flackernden Licht ihre unmittelbare Umgebung wahrnehmen konnte, wirkte beruhigend auf sie. Nach etwa zehn Minuten fuhr der Zug weiter. Ein kurzzeitiger Stromausfall hatte ihn zum Stehen gebracht.
    Ein Streichholz, ein Feuerzeug zum Überleben, als Symbol der Hoffnung und Errettung.
    Mit zitternden Fingern löste sie jetzt eines der Hölzchen von der Karte und zündete es an. Im schwachen Lichtschein fiel ihr Blick sofort auf die Campinglampe, die seitlich auf dem Tisch stand. Das Streichholz erlosch. Céline wusste genau, wie man eine solche Lampe anzündete. In ihrer Jugend war sie in den Schulferien öfter im Zeltlager gewesen. Wenig später brannte die Gasflamme, und Céline drehte sie auf mittlere Stärke.
    Sie nahm das Sonografiebild aus der Brieftasche, betrachtete die verschwommene Aufnahme und drückte ihre Lippen darauf. Erneut fing sie an zu weinen. Dann ließ sie die Aufnahme zurückgleiten.
    Der Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es kurz nach sieben war. Draußen musste bereits die Dämmerung hereingebrochen

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