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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra von Grote
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seiner Tussi wert?«
    Céline wollte sich aus seinem Griff befreien, doch es gelang ihr nicht. Ihre Wange brannte. Sie roch den heißen Atem des Mannes, und im Schein der Taschenlampe starrte sie in den dunklen Schlund seiner Augen. Sie schienen unnatürlich geweitet und flackerten.
    »Zweihunderttausend will ich haben«, fuhr er mit lauter Stimme fort. »Wenn er die bis morgen früh nicht auftreibt, bist du dran!«
    Mit einem Ruck ließ er Céline los, die zur Seite stolperte, stampfte zum Tisch und zündete mit einem Feuerzeug die Gaslampe an. Trotz der lähmenden Angst, die sein aggressives Verhalten in ihr ausgelöst hatte, nahm sie doch wahr, dass er mit einem Mal verwirrt schien, beinahe kraftlos und ohne Orientierung. Sein Blick irrte wie weggetreten durch den Bauwagen, als suchte er einen Halt, ohne ihn zu finden. Céline wagte sich nicht zu rühren. Eine unbedachte Bewegung, eine falsche Reaktion konnten zu einem neuen Ausbruch führen. Sie beobachtete ihn genau und zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, wobei ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Ihre rechte Wange brannte. Zum zweiten Mal hatte ihr Peiniger sie geschlagen. Nie zuvor in ihrem Leben war Céline von irgendjemandem geschlagen worden, auch als Kind nicht. Ohrfeigen oder Prügelstrafe hatte es in ihrem Elternhaus nicht gegeben.
    Der Mann ließ sich auf einen Stuhl fallen und presste einen Moment lang die Hände vors Gesicht. Sein Atem ging keuchend, und ein Zittern durchzog seinen durchtrainierten Körper. Er krümmte sich, als litte er unter starken Schmerzen. Dann plötzlich straffte er sich, doch er schien Mühe zu haben, das Gleichgewicht zu halten. Er zog seine Pistole aus der Jackentasche, entsicherte sie und richtete sie auf Céline.
    »Bleib bloß stehen, wo du bist!«, fauchte er mit einer Stimme, die merkwürdig verwaschen klang, so als wäre ihm die Kontrolle darüber entglitten. Seine geweiteten Augen stierten sie an. Die Pistole in der zitternden Hand schwankte gefährlich hin und her.
    Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, dachte sie. Beweg dich nicht! Irgendetwas Seltsames geschah mit diesem Mann. Er schien vollkommen außer sich, nicht mehr Herr seiner Sinne.
    Mit der freien Hand streifte er seinen Rucksack von der Schulter und wühlte hastig in einer der Seitentaschen. Er zog ein Papiertütchen heraus, verstreute ein helles Pulver auf der Tischplatte und beugte sich darüber. In tiefen Zügen sog er die Substanz durch beide Nasenlöcher ein. Dann lehnte er sich auf dem Stuhl zurück, die Pistole weiterhin auf Céline gerichtet. Mit einer Mischung aus Furcht und Faszination sah sie ihm zu.
    Sie verstand nicht viel von Drogen, hatte selbst nie welche genommen. Nicht einmal in ihrer Jugend, als es schick war, zumindest Haschisch auszuprobieren.
    Dieser Mann, der sie hier gefangen hielt, war drogenabhängig. Was nahm er? Céline kannte sich nicht aus. Sie wusste nur, dass Kokain als weißes Pulver verkauft wurde. War das seine Droge? Oder gab es andere, ähnliche Substanzen?
    Unverwandt blickte sie ihren Peiniger an. Nach einiger Zeit – waren es wenige Minuten? – bemerkte sie, wie das Zittern seiner Hände nachließ. Sein Blick wurde klarer und ruhiger, sein Körper entspannte sich. Das weiße Pulver schien sehr schnell zu wirken und den Zustand des schmerzhaften Entzugs zu beenden. Offensichtlich war aber durch die Einnahme der Droge sein Geruchssinn getrübt. Der starke Gasgeruch der Campinglampe hing immer noch im Raum, und der Geiselnehmer hatte ihn bisher nicht wahrgenommen.
    Seine Stimme riss Céline aus ihren Gedanken und aus ihrer Erstarrung.
    »Los, setz dich an den Tisch.« Jetzt klang er ruhig und souverän, aber dennoch bestimmt.
    Zögernd gehorchte Céline. Während sie sich langsam auf den Stuhl gleiten ließ, spürte sie, dass sie dringend auf die Toilette musste. Die ganze Zeit hatte sie diesen Drang schon unterdrückt. Denn im Bauwagen gab es keine Toilette.
    Nach dem Anruf des Geiselnehmers blieb LaBréa einen Moment bewegungslos auf seinem Schreibtischstuhl sitzen. In seinem Kopf drehte sich alles. Zweihunderttausend Euro wollte der Mann. Wie sollte er eine solche Summe bis zum nächsten Morgen beschaffen? Und selbst wenn das gelang – dass der Mann Céline danach wirklich freiließ, schien unwahrscheinlich. Er hatte seine Gesichtsmaske in der Bank zurückgelassen. Céline konnte ihn sicher genau beschreiben. Ein solches Risiko würde der Erpresser wohl kaum eingehen. Wie eine dunkle und drohende Wand

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