Der lange Schatten
sein. Es war Eile geboten; der Geiselnehmer konnte jeden Augenblick zurückkommen.
Céline griff nach der Campinglampe und begann, den Wagen zu durchsuchen. Eingangsbereich und Kochecke konnten rasch abgehakt werden, dort fand sich nichts von Bedeutung. Der Metallspind war mit einem Vorhängeschloss verriegelt, zu dem der Schlüssel fehlte. Was mochte er enthalten? Sie nahm sich die Schmalseite mit der Matratze vor. Dort lag eine schmuddelige Decke mit dem Aufdruck Police Municipale . Staatliches Eigentum, auf einem Polizeirevier gestohlen, vermutete Céline. Die grau gestreifte Matratze stank nach Urin und Schweiß und wies zahlreiche Flecken auf. Am Kopfende lag ein zerknautschtes kleines Kissen ohne Bezug. Am Fußende türmten sich einige Kleidungsstücke: ein Paar Jeans, ein zusammengerolltes Cordhemd sowie ein schwerer Parka. Darunter entdeckte Céline eine verstaubte Polaroidkamera und ein altes Fernglas. Schnell durchsuchte sie sämtliche Taschen der Kleidungsstücke. In der Brusttasche des Parkas entdeckte sie ein zerfleddertes, zusammengefaltetes Stück Papier, das sie vorsichtig öffnete. Es war ein amtliches Formular, eine Abmeldebescheinigung des Einwohnermeldeamtes. Ausgestellt vor zwei Jahren in Marignane, einem Ort nahe Marseille, auf den Namen Freddy Ruiz. Eine Adresse und das Geburtsdatum 1989. Freddy Ruiz … War das der Name des Mannes, der die Bank überfallen und Céline in diesen Bauwagen verschleppt hatte? Vom Alter her konnte er es sein. Außerdem konnte Céline sich nicht vorstellen, dass jemand die Abmeldebescheinigung einer anderen Person aufbewahrte.
Céline überlegte fieberhaft. Vor zwei Jahren hatte LaBréa noch bei der Police Judiciaire in Marseille gearbeitet. Möglicherweise war Freddy Ruiz dort einmal der Polizei aufgefallen und LaBréa begegnet? Was war damals geschehen? Hatte der Geiselnehmer eine alte Rechnung mit LaBréa offen? Céline steckte den Zettel zurück in die Brusttasche des Parkas und legte die Kleidung wieder so hin, wie sie sie vorgefunden hatte. Sie nahm wieder die Lampe, trat zurück zum Tisch und ließ sich auf den Stuhl sinken. Sie hatte nichts gefunden, womit sie sich im Ernstfall verteidigen konnte. Weder ein Messer noch irgendeinen anderen spitzen Gegenstand. Dafür kannte sie nun die Identität des Mannes. Dieses Wissen nützte ihr jedoch nichts, solange sie hier gefangen war. Und ob Freddy Ruiz, falls er wirklich so hieß, sie je wieder laufen lassen würde, schien unwahrscheinlich. Was hatte er mit ihr vor? Céline legte beide Hände auf ihren Bauch. Wir müssen durchhalten, flüsterte sie leise. Wir beide, du und ich … Sie hörte ihre eigene Stimme wie von weit her. Regte sich da etwas in ihrem Leib, verspürte sie eine Bewegung? Oder ließ sie sich von ihrem rasend pochenden Herzen täuschen? Ehe Céline eine Antwort darauf fand, hörte sie von draußen Schritte. Der Mann kam zurück! Rasch löschte sie die Campinglampe. Verdammt, der Gasgeruch hing in der Luft und würde sie verraten. Sie hörte, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde und verkrampfte die Hände ineinander, damit sie ihr Zittern unter Kontrolle bekam.
15. KAPITEL
Er betrat den Bauwagen und knallte die Tür hinter sich zu. Sofort richtete er den Schein der Taschenlampe auf Céline und sah, dass sie am Tisch saß. Dann versuchte er, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, um die Tür von innen abzusperren. Es gelang ihm nicht, und er stieß einen lauten Fluch aus. Im Bruchteil weniger Sekunden erfasste Céline die Aura, die den Mann umgab. Sie hatte sich verändert. Etwas überaus Gefährliches und Unberechenbares ging von ihm aus, er erschien bedrohlicher als in all den Stunden zuvor. Die Luft flirrte wie aufgeladen, angereichert mit einer Gewalt, die sich immer weiter aufbaute. Der laute Fluch war nur der Anfang. Was würde der Mann tun, wenn er am starken Gasgeruch merkte, dass sie, entgegen seiner Anweisung, die Lampe angezündet hatte?
Endlich hatte er es geschafft, die Tür abzuschließen. Er knallte die eingeschaltete Taschenlampe auf den Tisch, stürzte auf Céline zu und zerrte sie am Kragen ihrer Jacke vom Stuhl hoch. Sie versuchte sich zu wehren, doch er schlug ihr zweimal hart ins Gesicht. Céline taumelte gegen den Spind. Erneut packte der Geiselnehmer sie am Kragen und drückte sie gegen das kalte Metall. Schmerzhaft spürte sie im Rücken den Druck des Vorhängeschlosses.
»Was meinst du«, brüllte er unbeherrscht. »Wie viel ist deinem Bullen das Leben
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