Der lange Schatten
genug entfernt von der Örtlichkeit, wo der alte Bauwagen stand. Falls die Bullen also das Telefonat zurückverfolgen konnten, würden sie bei einer Telefonzelle in der Rue de Lobau im 4. Arrondissement landen. Von der Métrostation aus waren es nur ein paar Schritte dorthin. Bewusst wollte er nicht auf dem Handy dieses Bullen anrufen. Zwar hatte er sich die Nummer gemerkt, bevor er das Gerät der Tussi in der Bank zerstört hatte – sein Gedächtnis war fantastisch, wenn er in Hochform war! –, und sich die Nummer nach Verlassen des Bauwagens sicherheitshalber auch noch notiert. Dennoch hatte er beschlossen, diesen LaBréa erst einmal über seinen Dienstapparat zu kontaktieren. Offiziell, sozusagen. Er hatte Glück gehabt, dass der Typ tatsächlich in seinem Büro war. In der Zentrale hatte man ihn sofort weiterverbunden, alles ging glatt. Jetzt wusste dieser Bulle Bescheid und konnte sich überlegen, wie er auf die Schnelle die zweihunderttausend Euro beschaffte. Vielleicht gab es in der Polizeipräfektur oder in irgendeinem Ministerium einen Sonderfonds für solche Fälle? Schließlich machten die sogar Millionen an Lösegeld locker, wenn irgendwo ein französisches Schiff von Piraten gekapert wurde! Warum dann nicht lumpige zweihunderttausend? Er fand seine Forderung noch relativ bescheiden angesichts dessen, dass diese Tussi ihm vollkommen ausgeliefert war. Er konnte mit ihr machen, was er wollte, und in dem alten Bauwagen würde sie nie im Leben jemand finden.
Auf den Bauwagen war er durch puren Zufall gestoßen. Vor einigen Monaten hatte er in einem Haus am Ende der Sackgasse, die zu dem verlassenen Baugelände führte, ein Geschäft abgewickelt. Anschließend war er aus reiner Neugier auf das Gelände geschlendert, und da entdeckte er den Bauwagen. Gut getarnt hinter Büschen und Bäumen. Ein ideales Versteck, in das er sich zeitweise zurückziehen konnte. Er beobachtete das Gelände eine Zeit lang und kam zu der Erkenntnis, dass die Arbeiten an den halb fertigen Betonbauten eingestellt waren und der Bauwagen nicht mehr benutzt wurde. Offensichtlich hatte man ihn hier vergessen. Also sah er sich den Wagen genauer an. Die Eingangstür war nicht verschlossen, der Schlüssel steckte innen. Die winzigen Fensterscheiben schienen intakt. Im Wageninneren gab es eine notdürftige Möblierung. Das, was die Bauarbeiter zurückgelassen hatten. Viel mehr brauchte man nicht.
In den darauffolgenden Tagen schaffte er die Dinge, die ihm für eine einfache Unterkunft noch fehlten, in einem gestohlenen Lieferwagen herbei: Matratze, Gaskocher und Campinglampe, ein paar Vorräte, einen Zehn-Liter-Kanister mit Wasser, Bretter zum Vernageln der Fenster. Den Lieferwagen stellte er später in einer Seitenstraße im 13. Arrondissement ab.
Im Sommer, als er sich ab und zu hier aufhielt, hätte er nicht im Traum daran gedacht, eines Tages eine Geisel in dem alten Wagen zu verstecken zu müssen. Die Idee, eine Bank zu überfallen und sich mit einem Batzen Geld ins Ausland abzusetzen, nahm gerade erst Gestalt an. Ein großes Ding drehen statt all der kleineren Einbrüche und Raubzüge. Etwas, mit dem er für einige Zeit ausgesorgt hätte. Nach längerer Recherche war seine Wahl auf die LCL-Bank am Boulevard Diderot gefallen. Unweit der Métrostation Belleville hatte er am heutigen Morgen einen Motorroller gestohlen, das ideale Fluchtfahrzeug, wenn er mit seiner Beute die Bank verließ. Doch Plan A war dummerweise geplatzt. Er hatte beinhaltet, die Leute in der Bank zu überrumpeln, einzuschüchtern und in Schach zu halten, dann die Kohle aus der Kasse zu holen und gleich wieder abzuhauen. Zwei Dinge hatten ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht: die verschlossene Sicherheitsschleuse und die lächerliche Summe, die im Kassenfach lag und mit der er sich keinesfalls würde abspeisen lassen.
Plan B hatte er, genau wie Plan A, sorgfältig ausgearbeitet. Dazu gehörten die Plastikfesseln, die er letztes Jahr bei einem Einbruch in ein Bullenrevier im 17. Arrondissement erbeutet hatte. Auch ein schnelles und kompromissloses Handeln war Teil dieses Plans. Sich Respekt verschaffen. Zeigen, dass er vor nichts zurückschreckte. Er hatte, ohne zu zögern, zwei Menschen erschossen. Eine gerechte Strafe für sie, wie er fand. Warum war die Kassiererin trotz seiner Warnung so dumm gewesen, den Alarmknopf zu drücken und die Schleuse zu verriegeln? Und wieso hatte der andere Banktyp nicht die Zahlenkombination des Tresors gewusst? Er selbst
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