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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra von Grote
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hatte keine Schuld, wenn die Bank derart blödsinnige Sicherheitsstandards aufstellte und damit ihre eigenen Leute in Gefahr brachte. Die beiden waren nicht die ersten Menschen, die er hatte umbringen müssen. Das erste Mal, dass er getötet hatte, lag noch gar nicht so lange zurück. Als es vollbracht war, als er die blutüberströmte Leiche sah, berührte ihn das nicht im Geringsten. Vollkommen gefühllos hatte er sein Opfer betrachtet und sich nur gewundert, wie rasch und problemlos es gehen konnte, einen Menschen vom Leben in den Tod zu befördern. So war es auch heute in der Bank gewesen. Mitleid oder Schwäche konnte sich jemand wie er nicht leisten. Wichtig war nur, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
    Ja, Plan B hatte funktioniert. Bis jetzt jedenfalls. Mit der Bereitstellung des Fluchtwagens waren die Bullen auf seine Forderung eingegangen. Dass diese Tussi ausgerechnet einen Bullen namens LaBréa alarmiert hatte, empfand er dann doch als merkwürdigen Zufall und fast als Wink des Schicksals. Nie im Leben würde dieser Typ darauf kommen, woher er ihn kannte! Dieses Wissen löste tiefe Befriedigung in ihm aus. Mit den Menschen Katz und Maus spielen, ihnen immer eine Schrittlänge voraus sein – das hatte er seit seiner Jugend gelernt. Seit er sich gegen eine Gang von älteren Jungen in seinem Wohnviertel durchsetzen musste. Und er hatte sich durchgesetzt! Die Tussi dieses Bullen befand sich nun in seiner Gewalt. Und er würde schon noch zu seinem Geld kommen; der ganze Aufwand sollte sich schließlich lohnen. Der Stress, die zwei abgeknallten Bankleute, das Risiko, den Bullen gleich während der Flucht ins Netz zu gehen. Doch er hatte sie alle ausgetrickst! Die alte, unauffällige Kiste in der kleinen Straße nahe dem Périphérique stand da, als hätte sie nur auf ihn gewartet. Den grünen Wagen dort zurückzulassen und den Peugeot als neuen Fluchtwagen zu nehmen, war eine spontane Entscheidung gewesen. Ein Geniestreich, wie er fand. Er hatte alle Spuren verwischt und vor allem nicht den Fehler begangen, eine größere Strecke mit den beiden Fluchtautos zu fahren und Gefahr zu laufen, in eine Straßensperre zu geraten. Es gab ja den alten Bauwagen, und damit hatte alles perfekt ineinandergegriffen.
    Auf dem Métrobahnsteig warteten viele Menschen. Der Zug kam zwei Minuten später, und er war bereits überfüllt. Menschen drängten hinaus und hinein. Er schob sich in einen der Wagen, stand dicht an dicht zwischen jungen Schwarzen roch die Schweißausdünstungen fremder Menschen. Doch das störte ihn nicht. Einige Stationen vor der Endhaltestelle verließ er die Métro und ging mit raschen Schritten zu dem Haus am Ende der Sackgasse, wo er vorher bereits mehrere Male gewesen war und Geschäfte gemacht hatte. Er stieg über die Absperrung mit dem verwitterten Schild: Vorsicht, Einsturzgefahr!, stapfte durchs enge, düstere Treppenhaus in den ersten Stock und klingelte dreimal kurz. Nach einer längeren Wartezeit erklangen hinter der Tür Schritte, und die heisere Stimme seines Kontaktmannes fragte: »Wer ist da?«
    »Yannick, ich bin’s.«
    »Freddy?«
    »Ja, mach auf!«
    »Komm morgen wieder. Heute läuft nichts. Außerdem waren wir gar nicht verabredet.«
    »Ich war zufällig in der Nähe.«
    »Dein Problem, Freddy. Morgen, sag ich. Aber nicht vor dem späten Nachmittag.«
    Die Schritte hinter der Tür entfernten sich.
    Langsam ging Freddy die Treppe wieder hinunter. Es bestand keine Gefahr, dass irgendjemand ihrem Gespräch gelauscht hatte. Freddys Kontaktmann Yannick war hier der einzige Bewohner. Nachdem alle anderen Wohnungen wegen starker Risse am Mauerwerk von den Behörden zwangsgeräumt worden waren, hatte sich Yannick illegal im ersten Stock einquartiert. Mit seinen Geschäften konnte er sich in diesem Gebäude sicher fühlen.
    Freddy war also umsonst gekommen. Das spielte aber im Moment eine untergeordnete Rolle. Bis morgen Nachmittag konnte er wirklich noch warten. Er blickte auf seine Taucheruhr, ein billiges Beutestück aus einem Einbruch im 12. Arrondissement. Es war kurz nach halb acht. Der Wind trieb die tief hängenden Wolkenmassen über den Himmel. Bald würde es wieder regnen. Das verlassene Baugelände wirkte in der Dunkelheit wie ein großes, schwarzes Loch. Nach hundert Metern sah man die Umrisse der Bäume und Büsche. Niemand konnte vermuten, dass er hier einen Menschen gefangen hielt. Noch hatte er sich nicht überlegt, was er mit der Tussi in der Zwischenzeit anfangen

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