Der lange Schatten
tätigte und die Polizei erpresste. Das Gespräch dauerte eine Weile, und Claudine bezog währenddessen unter den Arkaden in der Rue de Rivoli in einem Hauseingang Posten. Wenig später verließ der Mann mit federndem Schritt die Telefonzelle. Er überquerte die Rue de Rivoli und kam dicht an Claudine vorbei. Er bemerkte sie nicht und fing plötzlich an zu pfeifen. Claudine erkannte die Melodie. Ein populärer Schlager vom letzten Sommer, dem Sommer der Hundstage. Überall hatte man damals diesen idiotischen Song gehört: ein Ohrwurm, der die Sängerin binnen kurzer Zeit zur Millionärin gemacht hatte.
Der Mann bog in die Rue des Archives ein. Claudine folgte ihm in gebührendem Abstand. Die beiden Plastiktüten baumelten rechts und links in ihren Händen. Kurz vor der nächsten Straßenkreuzung zögerte er kurz, suchte offenbar nach einer Hausnummer. Dann hatte er sie gefunden und stand vor einem Hauseingang. Er gab einen Code ins Tableau ein und zog kurz darauf die Haustür hinter sich zu. Rue des Archives Nummer 74 … Claudine warf einen Blick auf die Fassade des Hauses. Dann rief sie in der Technikabteilung des Präsidiums an.
»Kurze Frage, Achmed: Habt ihr gerade einen Anruf vom Fernsprecher Hôtel de Ville abgefangen?«
»Nein. Bisher hat der Typ den Commissaire noch nicht wieder angerufen. Warum?«
»Ich bin einem Mann gefolgt, der gerade von dort telefoniert hat. War aber offenbar Fehlanzeige.«
Claudine fühlte sich frustriert. Der Mann hatte ganz harmlos und verliebt mit jemandem telefoniert. Mit einer Freundin? Egal, jedenfalls schien er absolut unverdächtig. Dennoch notierte Claudine sich die Uhrzeit des Telefonats und die Nummer des Hauses, das er betreten hatte. Einige Regentropfen fielen auf ihr Notizbuch. Ein heißes Bad, dachte sie. Das wär’s jetzt! Genüsslich in der Wanne liegen, und gleich danach ins Bett. Bei dieser Vorstellung dachte sie an die Freundin ihres Chefs. Sie mochte sich nicht ausmalen, unter welchen Umständen Céline Charpentier von dem Geiselnehmer gefangen gehalten wurde. Auf jeden Fall gab es für sie mit Sicherheit kein entspannendes Bad. Sie seufzte und trottete zurück zu ihrem Beobachtungsposten am Hôtel de Ville.
20. KAPITEL
Das Erwachen war schrecklich. LaBréa spürte, wie eine Hand ihn kräftig an der Schulter rüttelte. Ihm tat jeder Knochen weh.
»Monsieur?« Eine fremde Stimme. »Ist Ihnen nicht gut? Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
LaBréa öffnete die Augen. Wie durch einen Schleier sah er den Mann, der sich über ihn beugte. Sein Gesicht war verschwommen, nur ein dichter schwarzer Backenbart gab ihm eine scharfe Kontur. Ein hämmernder Schmerz zog sich von LaBréas Hinterkopf bis zur Stirn. Langsam hob er die Hand und tastete nach der Stelle. Er spürte eine riesige Beule, doch zu seinem Erstaunen kein Blut. Mühsam stemmte er den Oberkörper hoch und stützte sich mit den Händen auf dem harten Asphaltboden des Métroganges ab.
»Nein, keinen Krankenwagen«, murmelte er.
»Was ist passiert?«, fragte der Mann erneut. Erst jetzt sah LaBréa, dass er nicht allein war und neben ihm eine Frau stand. »Sind Sie gestürzt?«
»Nein, nein.« LaBréa schüttelte den Kopf, was eine erneute Schmerzattacke auslöste. Wie lange hatte er hier gelegen? Er erinnerte sich an den Knoblauchgeruch, eine schnelle Bewegung, links von ihm, und einen fürchterlichen Schlag. Er wusste genau, wer ihn angegriffen hatte. Warum? War die Attacke eine Warnung? Davon ging LaBréa aus.
Er erhob sich und lehnte sich für einen Moment an die gekachelte Wand. Da erst entdeckte er die Nische, die dort eingelassen war. Von ihr ging eine kleine Tür ab. LaBréa schwankte, als er einen Schritt vorwärts tat, um zu prüfen, ob diese Tür verschlossen war. Sie war es; der Geiselnehmer musste demnach den Métrogang benutzt haben. Aber hier in der Nische hatte er sich versteckt. LaBréa wandte sich an die beiden Fremden, die ihn immer noch bestürzt musterten.
»Haben Sie jemanden gesehen? Jemand, der weglief, nach oben, zum Ausgang hin?«
»Nein«, erwiderte die Frau. »Wir sind gerade erst nach unten gekommen. Und da haben Sie hier gelegen. Sind Sie überfallen worden? Sollen wir die Polizei rufen?«
»Ich bin selber Polizist, Madame.«
»Ach so!«, meinte die Frau erstaunt.
Hastig durchsuchte LaBréa seine Kleidung. Seine Waffe steckte noch in der Seitentasche des Parkas. Auch sein Dienstausweis war da, Handy, Portemonnaie und Hausschlüssel. Und – die Papiertüte mit dem
Weitere Kostenlose Bücher