Der lange Schatten
sah genauer hin und nahm erst jetzt die Schlagzeile auf der Titelseite wahr. Neue Randale in den Vorstädten – Polizei machtlos. Bilder aus den siebziger und achtziger Jahren fielen ihm ein. Geiseln in der Gewalt der Roten Brigaden in Italien, der RAF in Deutschland. Eine hochgehaltene Zeitung oder ein Pappschild mit Datum, ein schnelles Polaroidfoto, damit untermauerten Terroristen ihre Forderungen an die Regierungen dieser Länder. Auch die Mafia ging bei Lösegelderpressungen ähnlich vor. Nun war Céline von dem Entführer in gleicher Weise abgelichtet worden, auf eine Stufe mit Menschen gestellt, die man als Geiseln gehalten und dann getötet hatte. LaBréa fühlte einen heftigen Stich in seiner Brust. Wut und Ohnmacht schnürten ihm die Kehle zu. »Dieses Schwein!«, murmelte er leise mit zusammengebissenen Zähnen.
Das Foto war zu klein, um das Erscheinungsdatum der Zeitung lesen zu können. War das die Ausgabe vom heutigen Mittwoch, die letzte Nacht ausgeliefert worden war? Dann hatte das Polaroid keine Beweiskraft, Céline konnte längst tot sein. Doch vielleicht war es ja die Zeitung vom morgigen Donnerstag? Das hoffte LaBréa, denn dann war das Foto innerhalb der letzten Stunden aufgenommen worden. Bloß wo? Den Hintergrund sah man kaum; man würde das Bild stark vergrößern müssen, um möglicherweise Einzelheiten erkennen zu können.
LaBréa steckte Foto und Papiertüte in einen Plastikbeutel, von denen er immer welche dabeihatte. Die Techniker bei der Spurensicherung würden noch heute Nacht beides unter die Lupe nehmen.
Er verließ den Bahnsteig. Vor dem Ausgang der meisten Métrostationen gab es Zeitungskästen, aus denen man nach Einwurf einer Münze die neuesten Presseerzeugnisse entnehmen konnte. Erst wenn er sich vergewissert hatte, dass die Zeitung in Célines Hand die Figaro -Ausgabe des morgigen Tages war, wäre er überzeugt, dass sie noch lebte.
Der gekachelte Gang, der sich über eine Treppe in mehreren Windungen bis zum Ausgang Rue Bonnet erstreckte, war menschenleer. LaBréas Schritte hallten von den Wänden wider. Die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen, eilte er zügig voran. Hinter einer Biegung stutzte er kurz. Ein starker Knoblauchgeruch hing plötzlich in der Luft. In LaBréas Kopf schrillte eine Alarmglocke. Zu spät. Der Angriff traf ihn mit voller Wucht. Er spürte einen heftigen Schlag auf den Kopf, dann fiel er in tiefe Dunkelheit.
Seit ihrer Kindheit hatte Céline nicht mehr gebetet. Nun saß sie seit geraumer Zeit am Tisch und stützte den Kopf auf ihre gefalteten Hände. Mit halblauter, erstickter Stimme wandte sie sich an einen Gott, an den sie als erwachsener Mensch nie geglaubt hatte. Tränen flossen ihr über die Wangen, sie fühlte sich am Ende ihrer Kraft und erhoffte sich durch diese Zwiesprache Trost in der Düsternis des Bauwagens, auf dessen Dach der Regen trommelte.
Erhörte Gott diejenigen überhaupt, die stets an ihm gezweifelt hatten? Oder erbarmte er sich gerade derer, die ihn verleugneten? Dunkel erinnerte sich Céline an eine Stelle in der Bibel. Hatte Jesus in der Bergpredigt davon gesprochen? Sie wusste es nicht. Leise kamen die Worte über ihre Lippen, erst stockend, dann immer drängender. Sie flehte um Rettung und Befreiung aus ihrer Gefangenschaft; darum, dass der Kelch an ihr vorübergehen möge. Dass ihr Baby das Licht der Welt erblicken durfte und dass LaBréa den Weg gewiesen bekam, der auf dieses verlassene Gelände und zu dem alten Bauwagen führte.
Erniedrigt und auf schreckliche Weise ausgeliefert hatte sie sich gefühlt, als der Mann die Zeitung aus dem Rucksack gezogen und das Polaroid von ihr geschossen hatte. Bis ins Mark gedemütigt. Wie ein Opferlamm wurde sie zur Schau gestellt, für immer in der Rolle der Geisel eines wahnsinnigen Bankräubers im Bild festgehalten. Wenn die Polizei sie nicht fand, würde man das Foto vermutlich in den Zeitung abdrucken und im Fernsehen zeigen. Wer hat diese Frau gesehen … Das Konterfei einer Frau in Geiselhaft, die der Kamera eine Zeitung zeigte als Beweis, dass man sie noch nicht liquidiert hatte … Die Scham, die sie empfunden hatte, als sie die Titelseite hochhielt und ihr Peiniger ihr noch gesagt hatte, sie solle lächeln, hatte sich tief in sie eingebrannt. Eine Scham, stärker als in jenem Moment, als sie sich über die leere Konservendose gehockt hatte. Dieses Foto sollte für LaBréa der Beweis sein, dass sie noch lebte. Er brauchte einen solchen Beweis und hatte ihn
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