Der lange Schatten
wahrscheinlich vom Geiselnehmer gefordert. Doch würde er ihren Anblick je wieder vergessen können? Oder stand dieses schreckliche Bild für alle Zeiten zwischen ihnen wie eine tiefe Kluft, die sie nie würden überwinden können?
Unruhig rutschte Céline auf dem harten Stuhl hin und her. Seit geraumer Zeit schon quälte sie ein nagendes Hungergefühl. Außer weiteren Dosen mit Cassoulet und anderen Fertiggerichten gab es nichts in diesem Bauwagen. Ein trockenes Stück Baguette, mehr wünschte sie sich nicht. Vielleicht half auch ein Schluck Wasser gegen den Hunger. Sie tastete nach dem Kanister, setzte die Öffnung an den Mund und trank gierig. Wenn ihre Blase sich wieder meldete, würde sie schon eine Lösung finden.
Auf welche Weise hatte er LaBréa das Polaroidfoto zukommen lassen? Ein schneller Blick auf ihre Uhr … es war jetzt kurz vor Mitternacht. Wann würde ihr Peiniger zurückkehren, was würde er ihr antun?
Die Minuten dehnten sich endlos in die Dunkelheit. Erneut faltete Céline die Hände und richtete ihre Gedanken an die ferne, unsichtbare, höhere Macht. Es gab sie, oder es gab sie nicht. Wer wusste das schon? In dieser Stunde der völligen Einsamkeit und des Verlassenseins spendete der Gedanke an Gott ein wenig Trost. Und war es nicht das, warum sich der Mensch Glauben und Religion geschaffen hatte?
Das kurze Telefonat mit Cyril verlief unerfreulich und hätte beinahe einen schalen Geschmack hinterlassen. Cyril war sauer, dass Jean-Marc nun doch nicht, wie geplant, heute Nacht zu ihm nach Hause kam.
»Auf nichts kann man sich mit dir einstellen!« Es klang vorwurfsvoll und unzufrieden. »Mit dir ist ein Privatleben die reinste Glücksnummer.«
»Das musst du doch verstehen, Cyril. Die Freundin des Chefs befindet sich seit heute Mittag um zwölf in der Gewalt eines Mörders! Da kann man den Mann doch nicht hängenlassen!«
»Aber mich kannst du hängenlassen.«
»So ein Quatsch! Ich lass dich doch nicht hängen – wir verschieben es nur auf morgen.«
»Ja, ja, Jean-Marc. Den Spruch kenne ich. Verschieben wir’s auf morgen, das hat schon Scarlett O’Hara gesagt. Im Übrigen ist der Plan deines Chefs doch hirnrissig. Wie wollt ihr denn zu viert die ganze Gegend überwachen?«
»Ob das Lösegeld beschafft werden kann, entscheidet sich erst morgen früh. Der Chef will doch bis dahin nicht untätig zu Hause rumsitzen.«
»Und deine anderen Kollegen? Ich meine diesen Leconte und seine Truppe. Drehen die inzwischen Däumchen?«
»Solange der Kerl keinen Ort und Zeitpunkt für die Geldübergabe nennt, sind denen die Hände gebunden.«
Am anderen Ende der Leitung ertönte ein lautes Seufzen. »Wie auch immer. Ich ergebe mich in mein Schicksal!« Das klang schon versöhnlicher. Eine der guten Eigenschaften von Cyril war, dass er nie lange sauer oder beleidigt sein konnte. »Auf jeden Fall wünsche ich euch viel Erfolg, auch wenn ich nicht daran glaube. Sei vorsichtig und pass auf dich auf, Jean-Marc!«
»Mach ich. Ich ruf dich gleich morgen früh an, bevor du in die Praxis gehst. Schlaf gut, chéri .«
Jean-Marc drückte das Gespräch weg. Die Uhr auf dem Display seines Handys zeigte zehn vor zwölf. Vor mehr als einer halben Stunde hatten er und LaBréa sich an der Métrostation Châtelet getrennt. Kurz darauf hatte sein Chef ihn vom Anruf des Geiselnehmers unterrichtet. LaBréa war sofort zur Haltestelle Belleville gefahren. Bisher hatte er sich nicht gemeldet. Wollte er seine Handyleitung freihalten, falls der Geiselnehmer sich früher als verabredet meldete? War die Abfallkorbgeschichte auf dem Bahnsteig nur ein Ablenkungsmanöver? Eines der vielen Spielchen, mit denen der Geiselnehmer die Polizei in Atem hielt? Jean-Marc fühlte eine diffuse Unruhe in sich aufsteigen und beschloss, LaBréa anzurufen. Er tippte auf die Kurzwahltaste mit der Nummer seines Chefs. Am anderen Ende der Leitung ertönte der Klingelton, aber niemand meldete sich. Dann schaltete sich die Mailbox ein. Jean-Marc hinterließ eine kurze Nachricht und bat LaBréa um Rückruf. Das mulmige Gefühl in seinem Bauch wurde immer stärker. Irgendetwas stimmte nicht! Wieso nahm LaBréa das Gespräch nicht an? Die Verbindung war ja zustande gekommen, also befand er sich nicht im Funkloch eines Métroschachts.
Jean-Marc wählte die Nummer von Claudine. Sie hatte an der Métrostation Hôtel de Ville Posten bezogen. »Hast du was vom Chef gehört ?«
»Nein, wieso? Ich denke, du bist in Kontakt mir ihm?«
»Er geht nicht an
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