Der lange Schatten
Polaroidfoto befand sich dort, wo er sie hingesteckt hatte. Der Angreifer hatte ihn demnach nicht durchsucht, sondern war vermutlich gleich nach seiner Attacke geflüchtet.
»Können wir noch irgendwas für Sie tun, Monsieur?«, fragte die Frau voller Anteilnahme.
»Danke, es geht schon wieder.« LaBréa strich seine Kleidung glatt. Die Schulter tat ihm höllisch weh, und sein Kopf klopfte zum Zerspringen. Eine Schmerztablette, die hätte er jetzt gebrauchen können! Rasch fragte er die beiden Fremden danach. Doch sie hatten nichts dergleichen dabei.
LaBréa verabschiedete sich von dem Paar, das sich, leise miteinander flüsternd, Richtung Bahnsteig wandte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Fünf nach zwölf. Er griff nach seinem Handy, doch es erschien kein Funksignal. Würde der Geiselnehmer tatsächlich um Mitternacht anrufen? LaBréa tastete noch einmal nach der Beule an seinem Hinterkopf und hastete weiter. An der Kreuzung der Gänge, die jeweils zu den beiden Bahnsteigen der Linie 11 führten, kam ihm Jean-Marc entgegen.
»Gott sei Dank, Chef! Wir haben uns schon Sorgen gemacht, weil ich Sie telefonisch nicht erreichen konnte. Alles okay?«
»Leider nicht. Der Kerl hat mir hier unten aufgelauert und mich niedergeschlagen. Nichts Ernsthaftes, nur eine Beule am Kopf. Ich hab ihn überhaupt nicht bemerkt – der hatte sich versteckt. Ich war dann kurzzeitig bewusstlos. Jetzt hab ich rasende Kopfschmerzen. Hätten Sie zufällig eine Tablette für mich, Jean-Marc?«
»Klar, Chef. So was hab ich immer dabei.« Jean-Marc zog sein Portemonnaie aus der Tasche des geliehenen Anoraks und holte aus einem Seitenfach ein Kärtchen mit Tabletten. Er gab LaBréa zwei davon, die dieser trocken hinunterschluckte. Dann ergriff er Jean-Marcs Arm. »Fahren Sie zurück zur Station Pyrénees; wir dürfen keine Zeit verlieren!«
»Was haben Sie denn in dem Abfallkorb gefunden, Chef?«
LaBréa sagte es ihm. Während Jean-Marc zum Bahnsteig der Linie 11 Richtung Porte des Lilas lief, eilte LaBréa zum Métroausgang, wo es einen Taxistand gab. Als der Wagen losfuhr, rief er Claudine an und berichtete ihr, was geschehen war.
»Ich fahre jetzt ins Präsidium«, sagte er dann. »Ich brauche Gilles’ Hilfe.«
»Sollen Franck und ich weiter auf unseren Posten bleiben?«, fragte Claudine.
»Ja. Es ist jetzt nach Mitternacht. Der Kerl hat bisher nicht wieder angerufen. Aber er wird sich auf jeden Fall melden – der will ja sein Lösegeld. Ich glaube nach wie vor, dass ich mit dem Umfeld dieser Métrolinie richtigliege. Umso mehr, seit er hier aufgetaucht ist und mich kurzfristig aus dem Verkehr gezogen hat.«
Mit hohem Tempo raste der Wagen durch die nächtliche Stadt. Der Regen hatte jetzt nachgelassen, und nach einigen Kilometern Fahrt hörte er ganz auf. LaBréa besprach am Telefon die Einzelheiten mit Gilles, dem Leiter der Spurensicherung. Es traf sich gut, dass dieser heute eine Nachtschicht eingelegt hatte. Er verfügte über die entsprechenden Geräte, um das Polaroidfoto genau unter die Lupe zu nehmen und Detailansichten stark zu vergrößern.
»Übrigens, wir haben tatsächlich aus der Maske des Geiselnehmers Hautzellen sicherstellen können«, bemerkte Gilles. »Zwei meiner Leute arbeiten daran. Die DNA-Analyse müsste spätestens in zwei, drei Stunden vorliegen. Vielleicht bringt uns das weiter?«
Weiter bringt uns nur, dieses Schwein ganz schnell zur Strecke zu bringen, dachte LaBréa, doch er sagte es nicht. Die Zeit lief ihm davon. Bis jetzt hatte der Mann nicht angerufen. Er ließ ihn schmoren. Erst die Attacke in der Station Belleville, jetzt Schweigen – eine kluge Taktik, das musste LaBréa zugeben. Abgesehen von dem Polaroidfoto gab es nicht Neues, keine wirklich greifbare Spur, nur Vermutungen und eine Theorie. Die Übergabe des Lösegeldes, dessen Herkunft und Bereitstellung völlig ungewiss erschienen, sollte um acht Uhr morgens stattfinden. Leconte, dieser Idiot, hatte gut reden! Versuchen Sie erst mal, ihn hinzuhalten … Bisher hatte es nur eine Gelegenheit gegeben, mit dem Geiselnehmer zu sprechen, und da war LaBréas Versuch, die Frist zu verlängern, kläglich gescheitert.
Ein anderer Gedanke schoss LaBréa durch den Kopf. Er hatte sich doch beim Schöngeist krankgemeldet. Das bedeutete, dass er das Präsidium eigentlich nicht betreten durfte. Noch viel weniger durfte er die Dienste des Technikteams in Anspruch nehmen. Streng genommen war Gilles nicht befugt, das Polaroidfoto zu untersuchen, es
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