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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra von Grote
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sein Handy.«
    »Vielleicht will er die Leitung für den Typen freihalten?«
    »Irgendwie hab ich so’n komisches Gefühl. Wenn ich ihn in fünf Minuten nicht erreiche, springe ich in den nächsten Métrozug und fahre bis Belleville.«
    »Vielleicht war die Sache mit dem Abfallkorb Fehlanzeige, und der Chef ist zurück zur Station Goncourt?«
    »Könnte sein. Auf jeden Fall checke ich erst Belleville, dann Goncourt.«
    »Okay, ich sage Franck Bescheid. Bei mir ist bis jetzt alles im grünen Bereich. Ich hab die Telefonzelle gut im Blick. Aber tote Hose. Bei dem Wetter ist kein Mensch mehr unterwegs. Melde dich, sobald du was weißt!«
    »Mach ich, Claudine.«
    Er steckte das Handy ein und verließ seinen Beobachtungsposten in der Rue Clavel mit gutem Sichtkontakt auf den Fernsprecher an der Ecke Rue des Pyrénées. Zum Métrobahnhof Belleville war es nur eine Station. Wenn der nächste Zug nicht allzu lange auf sich warten ließ, war er in drei Minuten vor Ort.
    Jean-Marc überquerte die Straße und sah sich noch einmal gründlich um. Niemand, der verdächtig schien. Inzwischen war es Mitternacht. Noch immer regnete es. Jean-Marc dachte an seinen Freund Cyril, der es sich jetzt in seiner warmen Wohnung gemütlich machte. Ein bisschen beneidete er ihn. Als Arzt mit eigener Praxis hatte er feste Arbeitszeiten und musste sich nicht die Nächte und Wochenenden um die Ohren schlagen. Doch gleich darauf wurde der Gedanke an ein bequemes Sofa und einen guten Schluck Wein wieder verdrängt. LaBréa brauchte ihn heute Nacht. Er war der beste Chef, den Jean-Marc sich vorstellen konnte. Er ahnte, wie ihm in dieser Situation zumute war. Um nichts in der Welt würde er LaBréa in dieser Nacht hängenlassen.
    Jean-Marc beeilte sich und hatte Glück. Eine Minute später fuhr die Métro ein. Im Waggon saßen nur zwei Männer. Der eine hatte sein Gesicht an die Scheibe gedrückt und schlief. Der andere wiegte seine Schultern im Rhythmus der Musik, die laut aus den Kopfhörern seines MP3-Players dröhnte. Jean-Marc blieb gleich an der Tür stehen. Der Zug setzte sich ratternd in Bewegung und verschwand im Tunnel.
    Als sein Handy klingelte, erkannte Franck auf dem Display die Nummer von Claudine.
    »Na, was liegt an?«, fragte er etwas flapsig.
    »Jean-Marc fährt zur Station Belleville. Er meint, irgendwas stimmt da nicht. Der Chef hat sich nicht gemeldet und geht auch nicht an sein Handy.«
    »Scheiße. Hoffentlich ist da nichts schiefgelaufen! Was machen wir?«
    »Nichts. Wir warten, bis Jean-Marc oder der Chef sich melden. Was tut sich bei dir?«
    » Nada. Wenn du mich fragst, schlagen wir uns die Nacht umsonst um die Ohren.« Seine Gedanken eilten zu seiner Freundin, die am späten Abend mit ihm gerechnet und für ihn gekocht hatte. Mist, so ein Auberginenauflauf mit Lammkoteletts schmeckte aufgewärmt einfach nicht. »Der Chef hätte lieber diesem Idioten Leconte Dampf machen sollen«, fuhr er fort.
    »Du weißt doch, dass Lecontes Dienststelle den Chef aus der Sache raushalten will! Und Thibon – der hat ihn ja auch fallenlassen.«
    »Hast du was anderes erwartet?«, knurrte Franck. Er fror, fühlte sich müde und hatte Hunger. Der Gedanke an die Kochkünste seiner Freundin Eloïse und ihre herrlichen weichen Formen – lauter Dinge, auf die er jetzt verzichten musste – verstärkte noch seine schlechte Laune.
    »Moment mal!«, zischte Claudine plötzlich, und Franck hörte die Anspannung in ihrer Stimme. »Da kommt ein Typ über den Platz und steuert genau auf die Telefonzelle zu … Jetzt nimmt er den Hörer ab und wirft ’ne Münze ein. Ich mach Schluss, Franck!«
    »Sei vorsichtig, Claudine!«, rief er noch, doch sie hatte schon aufgelegt.
    Der Mann trug Handschuhe und hatte sich die Kapuze seines Anoraks über den Kopf gezogen. Er schaute sich kurz um, bevor er eine Nummer wählte. Schwer zu sagen, wie alt er war. Claudine verließ ihren Beobachtungsposten und näherte sich der Telefonzelle. Um unauffällig zu wirken, hatte sie sich zwei mit Papierabfällen und leeren Flaschen gefüllte Plastiktaschen aus dem Büro mitgebracht. Jemand, der sie nicht kannte, würde sie für eine Frau halten, die spät mit ihren Einkäufen bepackt nach Hause kam. Sie ging in einer Entfernung von etwa zehn Metern an der Telefonzelle vorbei und hörte deutlich, wie der Mann jetzt lachte. Ein warmes, verliebtes Lachen. Es hatte nichts mit dem Lachen eines Menschen gemein, der eine Geisel in seiner Gewalt hielt, einen anonymen Anruf

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