Der lange Schatten
vermute ich. Er hat sie ja geschlagen«, kommentierte LaBréa.
»Und hier: Schweißspuren.« Gilles zeigte mit dem Cursor an eine Stelle über ihrer linken Schläfe. »Sehen Sie das, Commissaire?«
LaBréa nickte. Ein feines Rinnsal lief in die Augenbraue und verlor sich dort. »Zeigen Sie mal, ob auf der Zeitung irgendein Aufkleber zu erkennen ist, Gilles. Eine Auslieferungsadresse, eine Nummer oder Zahl, irgendwas, das darauf hinweist, woher der Kerl die Zeitung hat.«
Einen solchen Hinweis gab es nicht. Gilles konzentrierte sich jetzt auf das Umfeld, in dem das Foto aufgenommen worden war.
»Das ist das Gute an einem Polaroid«, bemerkte er. »Dass dank der Einheitsoptik der Kamera nie ein richtig enger Bildausschnitt entstehen kann. Bei einer Person mit einer Zeitung in der Hand haben wir automatisch auch immer ein Stück Hintergrund.«
»Sie sitzt an einem Tisch«, stellte LaBréa fest. »Links von ihr steht ein Plastikkanister.«
»Vielleicht ist da Wasser drin?«, mutmaßte Gilles. »Aber viel entscheidender ist das hier.« Er klickte an den linken vorderen Rand der Fotografie, und man konnte einen Gegenstand erahnen, der nur halb von der Aufnahme erfasst worden war. »Das ist eine Gaslampe. Campinggas. Das erkenne ich an der Art der Flamme und der Form der Lampe.« Er klickte einen Bildausschnitt rechts vom Tisch an und vergrößerte ihn. LaBréa beugte sich nach vorn.
»Ist das ein Campingkocher?«, fragte er.
»Ja, sieht ganz so aus«, erwiderte Gilles. »Da steht ein Topf drauf.«
»Dann ist sie in einem Wohnwagen oder einem Campingcar!«
»Das werden wir gleich wissen.«
Mit einigen Klicks holte Gilles den Hintergrund des Fotos nach vorn und vergrößerte zunächst einen Ausschnitt im oberen Bereich. Er zeigte ein Stück holzgetäfelte Decke. Auch die Wände waren mit Holz verkleidet. Gilles holte den Bildausschnitt näher heran.
»Wohnwagen oder Campingcars haben normalerweise keine Decke aus Holz. Und sie ist auch nicht leicht gewölbt – im Gegensatz zu der hier.« Er ließ den Cursor entlang einer Linie gleiten, die den Deckenbogen von der Wand trennte. »Das ist auch keine richtige Holztäfelung. Hier wurden einfache Bretter zur Innenverkleidung verwendet.«
»Ein Bauwagen!«, rief LaBréa spontan. »Zeigen Sie doch mal, ob an der linken Wandseite ein Fenster zu sehen ist?«
Gilles betätigte seine Befehlstasten. Am linken Bildrand erkannte man jetzt eine dunkle Öffnung, darauf einen kleinen Reflex.
»Ja, da ist ein Fenster, oder?«, fragte LaBréa. »Von außen abgedichtet, vernagelt oder dergleichen.«
Gilles holte den Ausschnitt ganz nah heran. Jetzt war es deutlich zu sehen: ein kleiner Fensterknauf, Teile des Fensterrahmens.
»Stimmt, Commissaire. Die Sicht nach draußen ist versperrt.«
LaBréa deutete auf die Scheibe. »Dieser Reflex hier, was könnte das sein?«
Gilles klickte einige Male hin und her. »Irgendwas spiegelt sich anscheinend in der Scheibe«, meinte er.
»Vielleicht das Blitzlicht der Kamera?«, warf LaBréa ein.
»Möglich. Der Reflex kommt von der dem Fenster gegenüberliegenden Wandseite oder vom unteren Teil der Decke. Das Blitzlicht hat den Raum für Bruchteile von Sekunden erhellt.«
Gilles ließ den Cursor über das Foto gleiten und schwenkte nach allen Seiten. Er nahm die rechte Wandseite über dem Campingkocher ins Visier und vergrößerte die Ausschnitte jeweils so stark, dass man beinahe die Holzstruktur der Bretterverkleidung zu sehen meinte. Zentimeter für Zentimeter tastete Gilles Decke und Wand ab. Plötzlich kam etwas ins Bild, das nicht zu der Holzvertäfelung passen wollte.
»Was haben wir denn da?«, murmelte er halblaut. Noch einmal vergrößerte er den Bildausschnitt. Ein kleines Messingschild mit Schrift wurde sichtbar. Gilles versuchte, sie zu entziffern.
»Société Malin & Fils, Constructions de Bâtiments«, las er laut vor. »Eine Baufirma!«
»Ich hab’s doch gesagt, das ist ein Bauwagen!« LaBréas Herz pochte wild. Nervös fuhr er sich über sein stoppeliges Kinn. »Fragt sich nur, wo dieser Wagen steht?«
»Wahrscheinlich irgendwo in der Umgebung der Métrolinie 11. So wie Sie es schon die ganze Zeit vermuten, Commissaire. Wir haben jetzt den Namen der Firma, der der Wagen gehört. Morgen früh …«
LaBréa unterbrach ihn. »Morgen früh ist zu spät, Gilles! Der Mann ist zu allem fähig. Der wird sich mit dem Lösegeld nicht vertrösten lassen.«
»Vielleicht doch? Was hat er denn davon, wenn er seine Geisel
Weitere Kostenlose Bücher