Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
versicherte sie, der Professor würde sich bald erholen, was ihr niemand glaubte.
»Wie konnte das passieren?«, klagte Steve das Schicksal an. Alle betonten, es sei ein glücklicher Zufall gewesen, dass er den Professor gerade noch rechtzeitig gefunden habe. Sonst wäre der alte Mann wahrscheinlich gestorben. »Also hat's gewisse Vorteile, wenn man arbeitslos ist«, meinte er zynisch.
Gabriella wandte sich mitfühlend zu ihm und überlegte wieder einmal, wie sehr er unter seiner Pechsträhne leiden musste. Jetzt bereute sie, dass sie ihn in letzter Zeit so oft unter Druck gesetzt hatte. Theodores Schlaganfall führte ihr erneut vor Augen, wie schnell sich das Leben ändern, wie leicht man geliebte Menschen verlieren konnte. Plötzlich erschienen ihr die Probleme mit Steve belanglos.
»Tut mir so Leid, Gabbie ...« Er ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Was der Professor ihr bedeutete, glaubte er zu wissen. Doch das ganze Ausmaß ihrer Gefühle erahnte er nicht einmal. Für Gabriella war Theodore das Symbol der Familie, die es in ihrem Leben nicht gab. Rückhaltlos verließ sie sich auf ihn. Er ersetzte ihr den Vater, war ihr Vertrauter, ihr geliebter Mentor. Nur ihm verdankte sie ihre Hoffnung auf die Zukunft, und er schenkte ihr die bedingungslose Liebe, nach der sie sich stets gesehnt hatte. Sie liebte ihn ebenso wie Mutter Gregoria, obwohl sie ihn noch nicht so lange kannte wie die Oberin. Nachdem ihr schon so viel genommen worden war, würde sie's nicht ertragen, ihn auch noch zu verlieren. Nein, er durfte nicht sterben – das ließ sie einfach nicht zu.
Am Abend – während sie von der Pensionswirtin und Mrs Rosenstein gezwungen wurde, etwas zu essen – rief sie mehrmals im City Hospital an. Steve war in sein Zimmer gegangen, um irgendetwas zu erledigen. Nur den beiden alten Frauen zuliebe würgte sie ein paar Bissen von Mrs Boslickis Eintopf hinunter. Danach sprang sie vom Tisch auf. »Ich fahre wieder zur Klinik ...«
Suchend schaute sie sich nach ihrer Handtasche um. Dabei fiel ihr ein, dass sie kein Geld mehr besaß. Sie rannte in ihr Zimmer hinauf, öffnete eine Schublade und zog ein Kuvert unter ihren Strümpfen hervor. Zu ihrem Entsetzen war es leer. Erst am Vortag hatte sie zweihundert Dollar darin versteckt. Wohin sie verschwunden sein mochten, erriet sie mühelos. In diesen schweren Zeiten wollte sie nicht mit Steve streiten. Andererseits widerstrebte es ihr, nach Einbruch der Dunkelheit die U-Bahn zu benutzen, und so eilte sie in sein Zimmer hinunter.
Er saß am Tisch und las einige Briefe, die er geschrieben hatte. Ohne Umschweife verkündete sie: »Ich brauche Geld für ein Taxi.«
»Tut mir Leid, Baby, ich hab keins. Heute musste ich Briefpapier kaufen, und die Fotokopien meines Lebenslaufs kosten ein Vermögen.« Zerknirscht schaute er sie an, aber sie war nicht in der Stimmung, auf seinen flehenden Blick einzugehen.
»Komm schon, Steve, du hast zweihundert Dollar aus meinem Kuvert genommen – und fast alles aus meiner Börse.« Wie sie beide wussten, konnte sich niemand anderer das Geld angeeignet haben.
»Ehrlich, Schätzchen, das war ich nicht. Ich hab mir gestern Abend nur vierzig Dollar geliehen, für die Fotokopien. Nach allem, was heute passiert ist, vergaß ich's dir zu sagen. Jetzt habe ich nur mehr zwei Dollar.« Er öffnete seine Brieftasche und zeigte ihr die beiden Scheine.
Mit seinen Lügengeschichten, die er wohl aus reiner Verlegenheit erfand, konnte sie kein Taxi bezahlen. »Bitte, Steve, ich brauche das Geld, weil ich zur Klinik fahren muss«, erwiderte sie ungeduldig. »Mein Gehalt bekomme ich erst am Freitag. Und in Zukunft wirst du nicht mehr an meine Börse gehen, ohne mich zu fragen.«
»Aber ich habe nichts genommen«, entgegnete er erbost und gekränkt. »Dauernd hackst du auf mir herum. Merkst du denn nicht, wie schwierig diese Situation für mich ist? Glaubst du, das alles gefällt mir?«
»Darüber kann ich jetzt nicht reden. Ich will endlich zur Klinik fahren ...«
»Hör auf, mir an allem die Schuld zu geben! Das ist unfair.«
Ihrer Ansicht nach hatte sie ihn lange genug fair behandelt. »Irgendjemand vergreift sich dauernd an meinem Geld, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es einer unserer alten Mitbewohner ist. Falls ich dich beleidigt habe, tut's mir Leid.«
»Schon gut, ich verzeihe dir.« Steve stand auf und küsste sie. »Soll ich dich begleiten?« Ihre Entschuldigung schien ihn zu besänftigen. Aber er wirkte immer noch bedrückt, und
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